Überraschende Wende: Warum Seehofer plötzlich nicht mehr nach Afghanistan abschieben will
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Horst Seehofer (CSU), Bundesinnenminister.
© Quelle: imago images/photothek
Brüssel/Berlin. Jähe Wendung in der Debatte um Abschiebungen nach Afghanistan: Angesichts des schnellen Vormarsches der radikal-islamischen Taliban erklärten am Mittwoch überraschend erst die niederländische Regierung und kurz darauf auch das Bundesinnenministerium, sie wollten keine Flüchtlinge mehr nach Afghanistan zurückschicken.
Dabei hatte Innenminister Horst Seehofer (CSU) noch vor wenigen Tagen in einem Brief an die EU-Kommission davor gewarnt, die Abschiebungen auszusetzen. Das würde „das falsche Signal senden und wahrscheinlich noch mehr Afghanen motivieren, ihre Heimat in Richtung EU zu verlassen”, hieß es in dem Schreiben, das Seehofer zusammen mit seinen Amtskollegen aus Österreich, Dänemark, den Niederlanden, Belgien und Griechenland verfasst hatte.
Kurz danach empfahlen jedoch die Botschafter der acht EU-Staaten, die noch in der afghanischen Hauptstadt Kabul arbeiten, einen vorläufigen Abschiebestopp. Darunter ist auch der deutsche Botschafter in Afghanistan. Der gemeinsam verfasste Bericht wurde in Brüssel als ein ungewöhnlicher Schritt gewertet. Denn die Asylpolitik liegt in der Kompetenz der Mitgliedsstaaten.
Die Botschafter schätzen die Sicherheitslage in Afghanistan offenbar als so dramatisch ein, dass Abschiebungen nicht mehr stattfinden können. Nach Einschätzung von EU-Beamten kontrollieren die Taliban mehr als 65 Prozent des Territoriums. Auch die afghanische Regierung hatte zuvor erklärt, die Abschiebungen nicht mehr zu akzeptieren.
Grüne: „Heilloses Chaos“
Die Europa-Grünen begrüßten die Aussetzung der Abschiebungen, sprachen aber von einem „heillosen Chaos”, das der Entscheidung vorangegangen sei. Dass Seehofer angesichts der dramatischen Situation in Afghanistan so lange an Abschiebungen festgehalten habe, sei absurd, sagte die Europaabgeordnete Hannah Neumann dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND): „Entweder war es populistisches Taktieren im Wahlkampf oder schlimmer noch: Seehofer glaubte wirklich, dass ein Abschiebestopp der Grund wäre, warum Afghaninnen und Afghanen fliehen.”
Hintergrund der scharfen Debatte soll die Sorge vor einer Flüchtlingskrise wie 2015 sein. Derzeit ist die Zahl der Flüchtlinge aus Afghanistan, die an der EU-Außengrenze aufgegriffen wird, aber noch überschaubar. Ein hoher Beamter der EU-Kommission sagte in Brüssel, seit Anfang des Jahres seien etwa 4000 sogenannte irreguläre Grenzübertritte verzeichnet worden. Das seien um die Hälfte weniger als im Vorjahreszeitraum.
Auch die Zahl der Abgeschobenen ist vergleichsweise relativ gering. Seit Jahresbeginn kehrten aus der EU 1200 Menschen nach Afghanistan zurück, so der Brüsseler Beamte. Aber nur 200 von ihnen wurden zwangsweise abgeschoben, der Rest kehrte freiwillig zurück.
Indes verschlechterte sich die Sicherheitslage in Afghanistan weiter. Die Taliban kontrollieren mittlerweile neun der afghanischen Provinzhauptstädte. Vor wenigen Tagen eroberten sie Kundus, wo die Bundeswehr jahrelang einen Stützpunkt unterhielt. Danach fielen den Islamisten auch die Städte Faisabad, Pul-i-Chumri und Farah in die Hände.
Taliban rücken an wichtigsten Grenzübergang vor
Auch wichtige Grenzübergänge zum Iran und Richtung Tadschikistan sind bereits von den Taliban besetzt. Das ist bedeutsam, weil die militanten Islamisten damit den Handel kontrollieren und Zölle kassieren können.
Der wichtigste Übergang Hairatan an der Grenze zu Usbekistan, in dem pro Jahr Waren im Wert von fast 1,5 Milliarden US-Dollar umgeschlagen werden, wird zwar noch von der Regierung in Kabul kontrolliert. Doch die Taliban rücken vor.
Nach Einschätzung von US-Geheimdiensten könnte die Hauptstadt Kabul viel früher als angenommen in die Hände der Aufständischen fallen. Der Zusammenbruch könnte in 30 bis 90 Tagen erfolgen, berichtete die „Washington Post“ unter Berufung auf nicht genannte Quellen in den US-Geheimdiensten. Noch im Juni hatten US-Geheimdienstmitarbeiter die Lage so eingeschätzt, dass Kabul in einem Zeitraum von sechs bis zwölf Monaten nach dem Abzug des US-Militärs unter Kontrolle der Taliban geraten könnte.
Sollte Kabul in die Hände der Taliban fallen, dürfte der Streit um die Abschiebungen nach Afghanistan endgültig beendet sein.