Tausende Franzosen streiken gegen späteren Renteneintritt
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/T2YJPX7VCVFDVDTBJVNI73TVPA.jpeg)
Der zweite nationale Streiktag in Frankreich gegen die Rentenreform von Präsident Emmanuel Macron verzeichnete erneut massiven Zulauf.
© Quelle: Christophe Ena/AP/dpa
Paris. Für manche ist es die erste Demonstration ihres Lebens, für den kleinen Louis zum Beispiel. An seinem Rucksack, den er auf dem Rücken trägt, hängt ein Pappkarton. „Mein Papa will nicht bis 64 arbeiten (und ich auch nicht)“ steht darauf. „Es ist wichtig, heute auf die Straße zu gehen, denn es geht um die Rente“, erklärt das neunjährige Kind. Louis hat keinen Unterricht an diesem nationalen Streik- und Protesttag, dem zweiten innerhalb von knapp zwei Wochen. Viele Lehrkräfte, Busfahrerinnen, Busfahrer, Lokführerinnen, Lokführer, aber auch Beamte und Beamtinnen oder Mitarbeitende von Raffinerien haben die Arbeit niedergelegt.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/XNFWBYI6SRALVGBV2Z46UQ5TRA.jpeg)
Menschen nehmen an einer Demonstration teil.
© Quelle: Christophe Ena/AP/dpa
Am Dienstagnachmittag waren die Zahlen derer, die sich in Paris und in ganz Frankreich an den Märschen gegen die Rentenreform der französischen Regierung beteiligen, zunächst noch ungewiss. Doch schon früh schien klar, dass erneut sehr viele Menschen dem Aufruf der acht großen Gewerkschaften des Landes, ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen, gefolgt sind. Beim ersten Aktionstag vor knapp zwei Wochen kamen allein in Paris rund 80.000 Menschen zusammen, landesweit waren es zwischen einer und zwei Millionen.
„Wir sind mindestens genauso zahlreich“, verkündete Philippe Martinez, Chef der radikalen Gewerkschaft CGT, bereits kurz nach Mittag triumphierend. So massive Demonstrationen hat das Land seit 2010 nicht mehr erlebt, als Präsident Nicolas Sarkozy das Rentenalter von 60 auf 62 Jahre erhöhte. Er hielt damals den wochenlangen Streiks und Blockaden stand. Nun hat eine ähnliche Kraftprobe begonnen. Der Ausgang ist ungewiss.
Frankreich: Erneuter Generalstreik geplant
Die französische Regierung plant eine Erhöhung des Renteneintrittsalter – und die Gewerkschaften stemmen sich dagegen.
© Quelle: Reuters
„Wir dürfen jetzt nicht nachgeben und müssen so lange durchhalten, bis die Regierung zurückweicht, auch wenn wir durch das Streiken Gehaltsausfälle haben“, sagte die Kinderkrankenschwester Maryse. „Dieser Kampf betrifft uns alle, nicht nur das Pflegepersonal. Auch Lehrer oder Bauarbeiter haben Berufe, die man bis 64 einfach nicht machen kann.“ Die Situation in den völlig überlasteten Notaufnahmen der Krankenhäuser sei dramatisch und die Folge von jahrelangen Sparmaßnahmen, unter welchen vor allem die Schwächsten der Gesellschaft leiden.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler halten Anhebung des Renteneintritts für unnötig
Es ist eines der Hauptargumente der Reformgegner, das an diesem Nachmittag immer wieder vorgebracht wurde: Präsident Emmanuel Macron höhle den französischen Sozialstaat aus und zwinge die Menschen zu unmenschlichen Anstrengungen. Auch etliche Rentner befanden sich in der Menge, „aus Solidarität“, wie die 66-jährige Elise, eine ehemalige Angestellte in einem Steuerbüro, sagte. „Ich habe selbst von einem frühen Arbeitsende profitiert und das gönne ich den nachfolgenden Generationen auch, damit sie noch etwas von ihrem Leben haben.“
Macrons Pläne sehen vor, das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 anzuheben und außerdem die schrittweise Erhöhung der Einzahldauer auf 43 Jahre zu erhöhen, um abschlagsfreie Pensionszahlungen zu gewährleisten. In fast allen europäischen Ländern sind die Regeln längst strikter. Hinzu kommen eine vergleichsweise hohe Lebenserwartung in Frankreich und ein Schuldenberg von 3000 Milliarden Euro, das sind 113 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Doch mehrere Wirtschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler rechnen vor, dass das System, anders als von der Regierung angegeben, gar nicht bedroht und damit eine Erhöhung der Altersgrenze keineswegs nötig sei.
„Die 64 Jahre sind nicht mehr verhandelbar“
Niemand weiß mehr in der Debatte, welche Prognosen korrekt oder verlässlich sind. Aber gut zwei Drittel der Franzosen sprechen sich gegen das Gesetzesprojekt aus. Fast genauso hoch ist zugleich der Anteil derer, die glauben, dieses werde trotzdem durchgesetzt. Bei einem Besuch in Den Haag am Montag, wohin ihn die Frage nach der unpopulären Reform verfolgte, erklärte Macron einmal mehr, die Anpassung sei unverzichtbar. „Die 64 Jahre sind nicht mehr verhandelbar“, betonte auch Premierministerin Élisabeth Borne.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/AM7VJERMT5GOPH2URJE465RAXQ.jpeg)
Menschen versammeln sich während einer Demonstration.
© Quelle: Thibault Camus/AP/dpa
Die Regierung wählte ein Turboverfahren, indem sie die Reform als Nachtragshaushaltsgesetz der Sozialversicherung deklarierte. Bis Ende März muss es demnach in beiden Parlamentskammern beschlossen sein. Verweigert eine Mehrheit der Abgeordneten ihre Zustimmung, kann Borne das Gesetz immer noch ohne Votum beschließen und die Vertrauensfrage stellen. Ob die miteinander verfeindeten Fraktionen der Opposition sich zusammentun würden, um gemeinsam die Regierung zu stürzen, erscheint fraglich, wenn auch nicht ausgeschlossen.
Den Reformgegnerinnen und -gegnern bleibt also wenig Zeit, um die Regierung noch zum Einlenken zu bewegen. Umso entschlossener wirkten sie gestern. Auffallend viele junge Leute befanden sich in den Reihen der Demonstrierenden in Paris. „Es geht um unsere Zukunft, aber auch um die Zukunft unserer Eltern“, sagte Luc aufgebracht, mit sich überschlagender Stimme. Er stand in der ersten Reihe einer Gruppe, die ein breites Spruchband einer Studentenorganisation hielt. Vor ihnen riefen junge Leute in Megafone: „Wir sind da, wir sind da, auch wenn Macron das nicht will, wir sind da!“ Luc schrie gegen den Lärm an, um zu erklären, warum sie hier seien.
Wir sind die von Corona gezeichnete Jugend und eine geopferte Generation, der Arbeitsmarkt wird immer prekärer und all diese Reformen verschlimmern die Situation.
Luc,
Teilnehmer einer Demonstration gegen Macrons Rentenreform
Es gehe um ein Gesellschaftsmodell: Das von Macron sei unsozial, es zwinge die Menschen dazu, immer länger zu arbeiten. Und das lehnen sie ab, noch bevor sie damit begonnen haben.