Wie eine ukrainische Chefredakteurin ihr Team von Deutschland aus führt
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„Ich kann immer noch nicht glauben, dass das alles im 21. Jahrhundert geschieht.“ – die ukrainische 24tv-Chefredakteurin Olha Konsevych leitet ihr Team derzeit aus einem Dorf in Deutschland.
© Quelle: Privat
Das Wichtigste sei die Arbeit, ist sich die ukrainische Journalistin Olga Konsevych sicher, als die Sprache auf die Unbeugsamkeit der Ukrainer kommt. Zu arbeiten halte die Menschen davon ab, dass sie „verrückt werden“, dass sie sich von dem Krieg und der Grausamkeit der russischen Kriegsverbrechen überwältigen lassen.
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„Am Abend ist die Zeit zu weinen“, sagt die 33-jährige Chefredakteurin des ukrainischen Nachrichtenportals 24tv.ua im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Sie selbst läuft nach der Arbeit einfach für ein paar Stunden los, „das macht mir den Kopf frei, das macht mich ruhig.“ Sie nennt das „den Zauber des Gehens“.
Von einem deutschen Dorf aus leitet Olha Konsevych ihr Team in der Ukraine
Konsevych lebt derzeit in einem kleinen Haus in einem 800-Seelen-Dorf in der Nähe von Mainz. Von dort aus geht ihre Arbeit weiter, gibt Linien vor, liest alle größeren Texte, leitet ihr Team von 24tv.ua, dessen immer noch 70 Mitarbeiter die User zu Hause weiterhin mit Nachrichten, Reportagen und Interviews aus allen Teilen der Ukraine versorgen. Die gebürtige Kiewerin wurde vom Ausbruch des Krieges in Litauen überrascht, wo sie mit ihren beiden Schwestern und ihrer Mutter Urlaub machte. Zurück in die Heimat – das sei keine Option gewesen. Aber es war auch schwer, etwas im Ausland zu mieten – ohne einen langfristigen Vertrag. Ein Freund in Deutschland half der Familie bei der Organisation des Zufluchtsortes. Inzwischen hat sich die Großstädterin eingewöhnt.
Große Sorgen habe ihr bei der Flucht nach Deutschland anfangs ihre Mutter gemacht. „Mein Vater ist im vorigen Jahr gestorben, und es ging ihr nicht gut, sie hatte Panikattacken. Ich hatte Angst, der Krieg würde sie noch mehr runterziehen.“ Jetzt gehe es besser: „Ich fühle mich sicher, meine Familie fühlt sich sicher – das ist die Hauptsache.“
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Blick in einen Redaktionsraum von 24tv in friedlichen Zeiten.
© Quelle: privat
„Ich würde gerne zurückgehen, aber ich kann mich zu Hause nirgendwo verstecken. Ich hatte in Kiew eine Wohnung in einem beliebten Viertel für Familien gemietet, aber dort war kein Luftschutzkeller“, erklärt Konsevych. „Wenn dort eine Sirene ertönt, muss ich zur Metro gehen. Das sind 15 Minuten Fußweg. Das kann genug Zeit sein, sich zu verstecken, es kann aber auch zu spät sein.“
Nur einmal war sie seit Kriegsbeginn noch in ihrer Heimat – um in der Odessa-Region eine Reportage über ihre ins Transitland Moldawien fliehenden Landsleute zu recherchieren. Eine Fahrt nach Kiew über die von Russen verminten Straßen schien ihr danach zu gefährlich. Sie erwähnt die Artillerieeinschläge vom Vortag, als UN-Generalsekretär António Guterres Kiew besuchte – „das war im Zentrum, nahe meiner Universität. Jederzeit kann alles passieren“.
Fehlende Schutzräume seien ein Problem für viele Ukrainer. „Wir haben nach dem Zweiten Weltkrieg nicht daran gedacht, welche zu bauen – anders als beispielweise Israel.“ So würden viele Ukrainer jetzt in ihren oft fensterlosen Badezimmern Deckung suchen, wo sie nicht von Glassplittern getroffen werden können. Gegen Raketen hilft so ein Versteck freilich nicht.
„Wenn du Anzeichen vom Krieg siehst, weck mich bitte“
Das Teamwork funktioniert bei 24tv auch auf Distanz. Konsevychs Kollegen arbeiten von zu Hause aus in verschiedenen Teilen der Ukraine. „Wir haben unser Büro in Kiew geschlossen, es lag im Zentrum, das war zu unsicher. Einige unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden nach Lviv im Westen evakuiert. Viele sind zu Verwandten in der Zentralukraine gezogen. Und es gibt auch Kollegen, die weiterhin in Kiew sind.“ Operativ ist das kein Problem. „Während der Corona-Pandenie waren wir ja auch im Homeoffice.“ Der psychische Stress freilich ist groß. In den ersten Wochen sind wir jeden Morgen um vier Uhr aufgewacht – es war die Zeit, als Kiew unter schwerem Beschuss stand. Die Kollegen haben sich gegenseitig gefragt: ‚Bist du in Sicherheit? Ist alles in Ordnung?‘“
Mit der Breite des Angriffs, den extrem grausamen Formen des Krieges in der Region Kiew oder in Mariupol hatte Konsevych nicht gerechnet. Als der 16. Februar verstrich, der von einigen Medien als Datum des Kriegsbeginns benannt worden war, ohne das etwas passierte, hätte man im Kollegenkreis zu witzeln begonnen: „Wenn du Anzeichen vom Krieg siehst, dann weck mich bitte.“ Konsevych ist einen Moment lang still. „Sonst hätten wir uns anders vorbereitet. Unsere Journalisten haben nur etwas Praxis in medizinischer Hilfeleistung. Aber niemand von uns ist ein Kriegskorrespondent.
Erst jetzt lernen wir im Ernstfall, wie wir Kriegsgeschehen untersuchen, wie wir Kriegsverbrechen wie in Butscha kommentieren, wie wir für unsere Sicherheit sorgen.“ Man habe einen Korrespondenten in Charkiv und Gewährsleute im Donbass, wo manche Verwandte und Kollegen gegen die Invasoren kämpfen. Aber an Orten wie Mariupol? „Unmöglich, dort jemanden hinzuschicken. Ich glaube, dass dort nur Kriegsreporter sein sollten, die ein spezielles Training durchlaufen haben?“
Es war klar, dass die Russen schnell auch nach Journalisten suchen würden
„Sie klappten ihre Laptops auf wie immer und begannen zu arbeiten“, erzählt Konsevych von ihrer Redaktion am ersten Kriegstag. „Trotz des Schocks.“ Eine Kollegin arbeitete auch dann noch weiter, als die Russen in ihrer Stadt einmarschierten, statt ihre Sachen zu packen und sich auf den Fluchtweg zu machen. Die Vorstellungskraft aller 24tv-Leute reichte zunächst nicht über kleinere Bombardements hinaus – und danach wieder die Rückkehr zu „normal“. In ihrem Urlaubsort empfand Konsevych die Situation als unwirklich. Zwei Tage lang konnte sie das Apartment in Vilnius nicht verlassen, sagt sie. Als sie doch hinausging, hätte sie der Kontrast zwischen der Normalität in der litauischen Stadt und dem Krieg in ihrer Heimat beinahe umgehauen. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass das alles im 21. Jahrhundert geschieht.“
Es gab Cyberangriffe auf die 24tv-Website und eine Drohung, in der Redaktion würde „eine Überraschung“ warten. „Ich dachte es wäre eine Bombe, aber es war – gar nichts. Nur eine Einschüchterung.“ Konsevychs Leute schliefen zu Beginn der Invasion nur zwei Stunden pro Tag, um immer online sein zu können. In der ersten Woche schon schien die Hauptstadt extrem gefährdet. Russische Truppen versuchten zum Regierungsbezirk vorzudringen. „Wir wollten über alles detailliert berichten.“ Nur manchmal machte mal jemand Pause, um mal nach seiner Familie zu sehen oder alles für den Fall der Evakuierung zu packen. Dabei war klar, dass die Russen nach der Regierung auch sehr schnell nach unliebsamen Journalisten geschaut hätten.
„Es ist wichtig, die Informationsfront aufrechtzuerhalten“
Die Situation jetzt bei 24tv? Alle seien furchtbar erschöpft, so Konsevych. „Aber es ist auch eine wichtige Aufgabe, die Informationsfront aufrechtzuerhalten. Deshalb versuchen wir einfach, zum üblichen Arbeitsschema zurückzukehren, zwei Tage pro Woche frei zu machen und so viel wie möglich über die Situation an den schlimmsten Schauplätzen zu berichten, Kriegsverbrechen zu dokumentieren, spezielle Projekte zu starten – über Vertriebene zu schreiben oder über die, die am meisten gefährdet sind – so haben wir etwa begonnen, über die LGBTQ-Gemeinschaft im Krieg zu schreiben.“ Man halte durch und glaube an den Sieg der Ukraine.
Insgesamt würden die ukrainischen Medien auch noch gut funktionieren. „Unsere Zeitungen sind in den letzten zehn Jahren immer stärker online gegangen. Es mag im Moment schwer sein, Zeitungen zu drucken und austragen zu lassen, aber alles ist ja im Internet.“ Digitale Sicherheit sei die Stärke der Ukraine. Sorge macht sich die Journalistin um regionale Blätter mit begrenzten Finanzreserven. „Aber Radio- und Fernsehkanäle funktionieren noch. Manche Sender haben sich zusammengeschlossen, ihr Unterhaltungsprogramm eingestellt und ziehen seit Kriegsbeginn einen Infomarathon durch.“
„Die Russen schlagen immer zweimal zu“
Sie sei vor dem Krieg durchaus Selenskyj-kritisch gewesen, räumt Konsevych im Gespräch ein. Ein Komödiant an der Macht, was sollte das schon groß werden? Das habe sich komplett geändert. So aktiv, präsent und standfest sei der Präsident. „Als Journalistin war ich schon zu Beginn des Krieges überrascht, wie das Präsidialamt total ehrlich über die Schwierigkeiten und den Verlauf der wichtigsten Kämpfe sprach.“ War vor dem Krieg eine Information nur nach einem längeren Schriftwechsel zu bekommen, läuft jetzt alles, etwa die Verifizierung eines Kriegsgeschehens, schnell und unbürokratisch. Gibt es eine Zensur der Berichterstattung? Sie verneint, höchstens gebe es Selbstzensur, wenn eine Berichterstattung den eigenen Menschen oder Streitkräften Schaden zufügen könnte. Und relativiert dann: „Zu den Regeln für alle Journalisten – auch für ausländische – gehört das Verbot, Standorte, Videos und Fotos vom Ort eines Beschusses zu veröffentlichen.“
Nicht alle hielten sich daran, aber es sei dennoch ungemein wichtig. „Die Russen schlagen immer zweimal zu“, sagt Konsevych. Das sei schon in Syrien so gewesen. „Bilder helfen ihnen nur bei der Korrektur der Schusslinie.“ So sei in Kiew eine russische Journalistin der Mediengruppe Insider ums Leben gekommen. „Sie wollte das zerstörte Einkaufszentrum fotografieren, und in diesem Moment griffen die Russen erneut an.“
Die Medien der Ukraine standen 2021 in der Kritik von „Reporter ohne Grenzen“
Auf der Rankingliste 2021 der Pressefreiheit rangiert die Ukraine im hinteren Mittelfeld auf Platz 97. Vor allem, so urteilte die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ im Vorjahr, sei dies den Besitzern vieler Medien geschuldet. „Fast alle Massenmedien gehören Politikern oder Oligarchen und sind vor allem Mittel im Kampf um wirtschaftliche und politische Macht“, hieß es da. „Immer wieder werden Medienschaffende an ihrer Arbeit gehindert oder mit Gewalt bedroht – vor allem, wenn sie über Korruption berichten.“
„Sie haben recht. Es ist traurig, wie die postsowjetischen Länder unter Oligarchen leiden“, bestätigt Konsevych. „Und nicht nur der Journalismus leidet darunter. Die Korruption sickert in alle Bereiche ein. Aber jetzt scheint es, dass sich sogar die schlimmsten politischen Gegner versöhnt haben: Oligarchen helfen jetzt entweder der Armee oder sie schweigen.“
Und dennoch sei man unzweifelhaft ein demokratisches Land: „Glauben Sie mir, die Situation in der Ukraine war vor dem Krieg viel besser als etwa in Russland oder Belarus. Zumindest schweigen wir ukrainischen Journalisten nicht und gehen auf Kundgebungen und versuchen, die Regierung zu kontrollieren und zu kritisieren. Aber wir haben in Zukunft noch viele Hausaufgaben zu machen, soviel ist sicher.“
Auch die Mehrheitsanteile an dem Medienhaus 24tv (mit reichweitenstarken Fernseh- und Radiosendern) sind in privater Hand – sie gehören mit fast 77 Prozent Ekaterina Kit-Sadovaja, der Frau des Bürgermeisters von Lviv, Andrej Sadovoj. Ist also auch 24tv ein Machtmittel?
Es gebe inhaltlich keine Briefings der Eigentümer oder Ähnliches, sagt die Chefredakteurin. Seit 2019 arbeite sie in der Redaktion und habe die Sadovojs seither kein einziges Mal getroffen. Sie habe nie Einfluss oder Druck seitens der Eigentümer gespürt, fühle sich als Journalistin frei. „Schon komisch, Druck spüre ich eher von den Nutzern. Da wir viele westliche ukrainische Leser haben, sind sie auch mehr auf westliche Nachrichten ausgerichtet, interessieren sich mehr für internationale Politik. Nachrichten über Russland haben diese Leute, die mehrheitlich nur Ukrainisch sprechen, noch nie gemocht.“
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Junges Team: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von 24tv im Sommer 2021.
© Quelle: privat
Konsevych leidet mitunter darunter, nicht bei ihren Kollegen in der Ukraine zu sein. „Weil ich im Ausland bin, fühle ich mich manchmal nutzlos“, gesteht Konsevych, „manchmal denke ich, ich sollte dort sein, wo gekämpft wird. Aber dann erkenne ich, dass es vielleicht nicht so klug wäre, verwundet oder tot zu sein und keine Nachrichten mehr in die Welt schicken zu können.“ Man müsse auf seine Gefühle aufpassen, den normalen Rhythmus des Lebens so gut es geht, beibehalten. „Nach dem Krieg, wenn Zeit ist, alles Furchtbare genau zu besehen, wird es noch einmal schwierig werden.“
„Ich hoffe, dass wir die zweite Kriegswelle im Donbass gewinnen“
Wie der Krieg enden ihrer Meinung nach enden wird? „Ohne nukleare oder chemische Angriffe“, glaubt sie, und „ich hoffe, dass wir diese zweite Kriegswelle im Donbass gewinnen. Und dann werden wir aus einer Position des Siegers mit Russland verhandeln. Ich hoffe, es wird zu einem persönlichen Kontakt von Selenskyj mit Putin bekommen. Das wäre das Signal für das Ende des Krieges.“
Schlimm wäre es, wenn der Krieg Monate, vielleicht Jahre weiterginge – für die Wirtschaft, vor allem für die Menschen. „Ich hoffe, es gibt Frieden im Frühling enden, sonst wird ganz Europa die Auswirkungen der Kämpfe spüren. Im kleinen gibt es die auch schon in Deutschland“, sagt Konsevych. „Nirgendwo in den Supermärkten finde ich noch Sonnenblumenöl.“
Olha Konsevych (33) ist Chefredakteurin bei der großen ukrainischen Nachrichtenplattform 24tv.ua (zwei Millionen Abonnenten bei Youtube, mehr als eine Million bei Facebook). Sie erwarb 2017 einen Doktortitel in Kommunikationswissenschaften an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität Kiew, mit besonderem Schwerpunkt auf den Beziehungen zwischen der Ukraine und der EU, demokratischen Übergängen und der Östlichen Partnerschaft.
Seit zehn Jahren arbeitet Olha mit verschiedenen Medien zusammen und gibt ihr Wissen weiter, zum Beispiel als Beraterin von NGOs. Seit 2019 ist Olha Teil des German Marshall Fund of the United States und seines innovativen transatlantischen Netzwerks junger Führungskräfte der Zivilgesellschaft (TILN). Im Jahr 2021 wurde sie als erste Ukrainerin in die VVEngage-Kohorte der Vital Voices Global Partnership aufgenommen, die von Hillary Clinton und Madeleine Albright gegründet wurde.