Strafpsychologie in Russland: Zwangseinweisungen als Mittel der Repression
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Demonstranten halten im April 2021 Plakate mit der Aufschrift „Russland wird frei sein, Freiheit für politische Gefangene!“ während einer Demonstration in Moskau zur Unterstützung des inhaftierten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny hoch.
© Quelle: Alexander Zemlianichenko/AP/dpa
Moskau. „Woher nehme ich die Kraft, das alles über mich ergehen zu lassen?” Die Frage stellte sich die russische Oppositionspolitikerin Wioletta Grudina im Gespräch mit dem russischen Onlinemädchenmagazin „Wonderzine.com” selbst, ohne sie allerdings beantworten zu können: „Ich weiß es nicht. Fragen Sie Nawalny, woher er die Kraft nimmt.”
Viel Energie brauchte die 31-Jährige, die in der arktischen Großstadt Murmansk den Regionalstab des inhaftierten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny bis zu dessen Abwicklung im Frühjahr leitete, wegen der vielen Angriffe der russischen Staatsmacht auf sie zuletzt tatsächlich: Mitte Juli ordnete ein Gericht an, dass sie in ein Krankenhaus zwangseingeliefert und wegen Covid-19 behandelt werden müsse – obwohl sie keine Symptome aufwies, ein negatives Testergebnis vorweisen konnte und ein Arzt aussagte, dass sie keine Behandlung benötige.
Grudina startet Hungerstreik
Offensichtlicher Grund für die Einweisung: ihre angestrebte Kandidatur bei den Wahlen zum Stadtrat im September. Es waren dann auch ihre politischen Ambitionen, wegen denen Grudina am 26. Juli im Krankenhaus einen Hungerstreik antrat. Dadurch wollte sie erzwingen, dass sie bei den Wahlbehörden der Stadt notwendige Unterlagen für ihre Kandidatur bei der Stadtratswahl einreichen könne. Denn die Krankenhausleitung habe sie daran gehindert.
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Chefarzt Arkadij Amosow „hält mich rechtswidrig fest, behindert meine Kandidatur, nimmt mir meine persönliche Freiheit und mein Recht, mich zur Wahl zu stellen, und isoliert mich in einem Covid-19-Krankenhaus, das seinem Regiment untersteht”, sagte Grudina dem Fernsehsender „Nastojaschtscheje Wremja”.
Nach dem Krankhaus folgt das Gericht
Anfang August wurde Grudina schließlich aus dem Krankenhaus entlassen, nur um allerdings direkt am Eingang des Klinikums von der Polizei in Empfang genommen zu werden. Obwohl sie sich nach acht Tagen Hungerstreik kaum noch auf den Beinen halten konnte, wurde sie von den Beamten und Beamtinnen einem Distriktgericht vorgeführt. Dort lag ein Antrag des Innenministeriums, die Oppositionelle mit Hausarrest und Internetverbot zu belegen.
Der Richter lehnte das Gesuch ab, wie Grudina mit Genugtuung auf Telegram mitteilte. Als Kandidatin für die Stadtratswahl wurde sie von der Wahlkommission allerdings nicht zugelassen. Der Grund: Nachdem die Organisationen Alexej Nawalnys als extremistisch eingestuft wurden, ist all seinen bisherigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern automatisch untersagt, bei den Wahlen zu kandidieren. Das gelte auch für Grudina.
Eine Zwangseinweisung ins Krankenhaus musste Mitte Juli auch der frühere Nawalny-Mitarbeiter Dmitrij Nadein aus dem sibirischen Irkutsk über sich ergehen lassen. Besonders perfide: Verfügt wurde die Einlieferung von einem Militärgericht in Chabarowsk, circa 2200 Kilometer östlich von Irkutsk. Nadeins Familie erklärte, der Blogger sei Mitte Juni heimlich aus seiner Heimatstadt in den Fernen Osten verlegt worden, und die Behörden weigerten sich zu erklären, warum er in einer anderen Region vor Gericht gestellt werde.
Bei Aktivisten wird Schizophrenie begutachtet
Der Aktivist, dem der Prozess wegen angeblicher „Rechtfertigung von Terrorismus” gemacht wird, musste sich einem psychiatrischen Gutachten unterziehen, das zu dem Ergebnis kam, er leide unter Schizophrenie und von ihm gehe Gefahr aus. Nach Angaben seines Verteidigungsteams durfte er während der Begutachtung nicht mit seinen Anwälten kommunizieren, wie „Radio Free Europe” meldete.
Hart traf es Ende Juli auch den Schamanen Alexander Gabischew, der vom Stadtgericht in Jakutsk der Gewaltanwendung gegen Polizeibedienstete und des Aufrufs zum Extremismus für schuldig befunden und zu einer „intensiven” Zwangsbehandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus auf unbestimmte Zeit verurteilt wurde.
Gabischew erlangte 2019 nationale Bekanntheit, als er die 7500 Kilometer lange Strecke von Jakutsk nach Moskau zu Fuß gehen wollte, um „Putin zu vertreiben”. Er schaffte es allerdings nicht, bis zum Kreml vorzudringen: Die Behörden stoppten ihn während seiner Wanderung mehrmals, brachten ihn nach Jakutsk zurück und wiesen ihn schließlich zur Untersuchung in eine neuropsychiatrische Klinik ein.
Seine Schwester Wiktoria Sacharowa macht sich jetzt ernsthafte Sorgen um ihren Bruder. Sie glaubt nicht, dass er die jahrelange Behandlung mit schweren Psychopharmaka durchhalte, wurde sie von „Nastojaschtscheje Wremja” auf der Internetseite des Senders zitiert.
Menschenrechtsorganisation: „Rückkehr der Strafpsychiatrie”
Grudina, Nadein und Gabischew sind nur drei Fälle unter mutmaßlich mindestens Hunderten politischen Aktivistinnen und Aktivisten, die sich in den vergangenen Jahren in Russland zwangsweise psychiatrisch oder anderweitig medizinisch behandeln lassen mussten. Schon im Jahr 2016 sprach die Menschenrechtsorganisation Agora, die inzwischen aufgelöst wurde, in einem Bericht von der „Rückkehr der Strafpsychiatrie in Russland”.
Welche Dimension diese Praxis hat, versuchte Agora in dem Bericht aus den offiziell vorliegenden Statistiken herzuleiten. Demnach lag die Zahl der Fälle, in denen ein Angeklagter zwangsweise psychiatrisch begutachtet wurde, zwischen 2005 und 2011 relativ stabil bei knapp 190.000 pro Jahr und stieg in der Folge bis 2014 auf 216.744 deutlich an.
Der Anstieg um gut 14 Prozent zwischen 2011 und 2014 geht einher mit der Beobachtung Agoras, dass sich viele der Demonstranten einer solchen Behandlung unterziehen mussten, die seit der landesweiten Protestwelle nach den umstrittenen Parlamentswahlen 2011 und Wladimir Putins Kandidatur für eine dritte Amtszeit als Präsident 2012 verhaftet wurden. Viele von ihnen bekamen die Diagnose „Schizophrene”, woraufhin ihnen Psychopharmaka verabreicht wurden, ohne darüber informiert zu werden und der Behandlung zustimmen zu können.
Angeklagter muss 18 Monate in einer psychiatrische Einrichtung
So verbrachte etwa Michail Kosenko, ein Angeklagter im Rahmen der sogenannten Bolotnaja-Prozesse, die nach den Massenunruhen 2011 und 2012 vom Regime angestrengt wurden, nach seiner Verurteilung 18 Monate in einer psychiatrischen Einrichtung mit der Diagnose „paranoide Schizophrenie”.
„Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus war er völlig durch den Wind”, sagte seine Schwester Ksenja 2015 „Radio Swoboda”: „Es dauerte circa acht Monate, bis seine geistige Gesundheit wiederhergestellt war.”
Auch unter den Frauen der Rockband Pussy Riot, die 2012 nach ihrem „Punkgebet” in der Moskauer Christi Erlöser Kathedrale wegen „Rowdytums aus religiösem Hass” zu Haftstrafen verurteilt worden waren, mussten sich zwei der Verurteilten – Jekaterina Samuzewitsch und Nadeschda Tolokonnikowa – einem psychiatrischen Gutachten unterziehen, wobei ihnen laut Gerichtsunterlagen psychische Störungen wie das „kategorische Beharren auf der eigenen Meinung” attestiert wurden.
„Für politisch motivierten Missbrauch geradezu prädestiniert”
All das stuft der Agora-Bericht als alarmierend ein. Das Problem fange damit an, dass Staatsanwälte psychiatrische Gutachten ohne die geringste Begründung beantragen könnten. Besorgniserregend sei auch, dass die Gerichte solchen Anträgen fast immer stattgeben würden und dass die psychiatrischen Gutachter keiner unabhängigen Aufsicht unterstünden: „Damit wurde ein System geschaffen, das für politisch motivierten Missbrauch geradezu prädestiniert ist.”
Allerdings legten die Autoren des Agora-Berichtes auch Wert auf die Feststellung, dass der politische Missbrauch der Psychiatrie im heutigen Russland noch lange nicht das Ausmaß angenommen habe, das für die Sowjetunion heute dokumentiert ist: „Noch ist es eher ein Mittel der Einschüchterung, das bei vielen Fachärzten auch auf Widerstand stößt.”
Diese Einschränkung und der damit verbundene Versuch, die Situation objektiv darzustellen, half Agora allerdings nicht. Kurz nach der Veröffentlichung des Berichtes wurde die Menschenrechtsorganisation von der Staatsmacht als „ausländischer Agent” eingestuft und löste sich noch im selben Jahr auf.