Zwischen langen Schlangen und leeren Regalen
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Vor der Tafel in Essen warten bedürftige Menschen auf die Ausgabe der gespendeten Lebensmittel.
© Quelle: imago images/brennweiteffm
Berlin. Es ist kurz vor 16 Uhr an einem kalt-grauen Donnerstag im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick. Vor der Tafel hat sich bereits eine lange Menschenschlange gebildet. In wenigen Minuten beginnt die Lebensmittelausgabe. Schon um 9 Uhr morgens kommen die ersten, um ihre Taschen möglichst weit vorne vor der Tafel abzustellen. Nachdem sie sich einen Platz in der Schlange gesichert haben, gehen sie zurück nach Hause und kommen kurz vor Beginn der Ausgabe wieder.
Das Warenangebot reiche derzeit gerade so aus, um alle Kundinnen und Kunden zu versorgen, sagt Andreas Bredereck, Leiter der Ausgabestelle in Treptow-Köpenick. Doch der Konkurrenzkampf und die Angst der Menschen, leer auszugehen, seien allgegenwärtig: Immer öfter käme es zu Auseinandersetzungen vor den Tafeln. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst, und wer drängelt, wird angegangen – verbal wie auch körperlich.
500.000 Tafel-Kunden mehr als 2017
Seit Beginn des Jahres steigt die Nachfrage nach den kostenlosen Lebensmitteln konstant, erklärt der Vorsitzende der Tafel Deutschland Jochen Brühl. Dazu hätte auch die Pandemie beigetragen: Während die Tafel im Jahr 2017 rund 1,5 Millionen Kunden hatte, stieg die Zahl in den beiden Pandemiejahren schon auf 1,65 Millionen. „Viele armutsbetroffene Menschen haben diese Zeit mit letzter Kraft überstanden“, sagt Brühl dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), „jetzt sind alle Reserven und Ressourcen aufgebraucht.“
„Viele armutsbetroffene Menschen haben diese Zeit mit letzter Kraft überstanden, jetzt sind alle Reserven und Ressourcen aufgebraucht.“
Jochen Brühl,
Vorsitzdender der Tafel
Dazu kämen die durch die Inflation massiv steigenden Lebensmittel- und Energiepreise und der Krieg in der Ukraine. Die Krisen verschieben Armutsgrenzen – viele Menschen, die vor wenigen Monaten gerade noch über die Runden gekommen waren, sind nun auf Hilfen des Staates angewiesen. Das zeigen auch die Zahlen, denn derzeit kommen laut Brühl etwa zwei Millionen Menschen zur Tafel – 500.000 mehr als noch vor fünf Jahren.
Nachfrage steigt, Spenden sinken
Das Problem: Während die Nachfrage steigt, sinken die Spenden der Lebensmittelhändler. Durch die erhöhten Lebensmittel- und Energiepreise würden Supermärkte weniger Ware einkaufen, wodurch wiederum weniger übrig bleibe, was anschließend gespendet werden könnte. In Deutschland sind Supermärkte außerdem nicht dazu verpflichtet, Lebensmittel zu spenden.
Dass viele Supermärkte auch nicht auf freiwilliger Basis spenden, hat meist finanzielle Gründe: Durch komplizierte rechtliche und steuerliche Bedingungen ist es für die Händler günstiger, die Ware wegzuwerfen, als sie an Bedürftige weiterzugeben. „Was vorhanden ist, muss auf immer mehr Menschen aufgeteilt werden“, beklagt Brühl. Deswegen gebe es bereits bei einem Drittel der Ausgabestellen in Deutschland Aufnahmestopps.
Kleiderkammern fehlt es an Winterausstattung
Mit Spendenknappheit haben auch immer mehr Kleiderkammern zu kämpfen, die Kleidungsstücke an Bedürftige verteilen – zumindest in der Theorie. In der Praxis überholt auch hier die Nachfrage in den vergangenen Monaten häufig das Angebot. Zu den bisherigen Nutzern der Angebote – Menschen mit geringem Einkommen, Arbeitslosengeld-Beziehern und Obdachlosen – kommen seit Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar auch immer mehr Flüchtlinge aus der Ukraine hinzu.
Je tiefer die Temperaturen sinken, desto größer wird vor allem die Nachfrage nach Schlafsäcken, Mützen und festen Schuhen. Aber auch elementare Dinge wie Unterhosen und Socken werden stets gebraucht. „Hier liegen zu dieser Jahreszeit normalerweise die dringend benötigten Schlafsäcke, die wir ausgeben, sobald es kalt wird“, sagt die Sprecherin der Kleiderkammer der Berliner Stadtmission, Barbara Breuer, und zeigt auf das oberste Fach eines großen Regals im Kleiderlager. Statt Schlafsäcken: völlige Leere.
Zu wenig gespendete Männerkleidung
„Die Menschen fürchten sich angesichts der hohen Energiepreise vor dem kalten Winter, weshalb sie Kleidung eher behalten, als sie zu spenden“, sagt Breuer. Das Wenige, das gespendet wird, sei oft kaputt, verschmutzt oder nicht saisonal. Darunter würden vor allem bedürftige Männer leiden, was ein Blick ins Kleiderlager bestätigt: Es fehlt an großen festen Schuhen, an Pullis, an Unterhosen, an Socken.
„Frauen spenden tendenziell mehr Kleidung als Männer“, so Breuer. Etwa 80 Prozent der gespendeten Kleidung sei für Frauen, nur 20 Prozent hingegen für Männer. Beim Bedarf sieht es allerdings genau umgekehrt aus: Denn 80 Prozent der auf Kleiderspenden angewiesenen Menschen seien Männer.
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Obdachlose sind besonders bei kalten Temperaturen auf Kleiderspenden angewiesen.
© Quelle: Paul Zinken/dpa
Steigende Armut gehe zulasten der Ehrenamtler
Vor der Corona-Pandemie seien etwa 60 Personen am Tag in die Kleiderkammer der Stadtmission gekommen, schätzt Mitarbeiter Veikko Diekmann. Kurz nach Kriegsbeginn habe die Nachfrage ihren Höhepunkt erreicht. Mittlerweile kämen täglich meist zwischen 90 und 130 Menschen. Doch es gibt auch Ausreißer. Montags, wenn die Kleiderkammer nach dem Wochenende wieder öffnet, sei die Nachfrage besonders hoch: „Vor einigen Wochen kamen an einem Montag 170 Menschen“, sagt Diekmann. Etwa 50 davon habe er ohne Kleidung wegschicken müssen. Im Sommer mag das noch zu verkraften sein. Doch besonders nachts sinken die Temperaturen längst in den einstelligen Bereich.
Und nicht nur die vielen Bedürftigen leiden unter steigender Armut und sinkender Spendenbereitschaft. Die meisten Einrichtungen werden zum Großteil von Ehrenamtlern getragen – alleine bei den Tafeln sind das bundesweit mehr als 60.000 Menschen. Bedürftigen nicht helfen zu können gehe auf die Psyche der Mitarbeiter, sagt Jochen Brühl. Einige würden ihr Engagement deshalb beenden, es kämen aber auch neue Helfer hinzu.
Sorge vor dem Winter
Brühl und viele andere in den Tafeln, Kleiderkammern und weiteren Hilfseinrichtungen blicken voller Sorgen auf den kommenden Winter. Sie wollen helfen. „Wir können aber nicht leisten, was der Staat nicht schafft“, sagt Brühl. Gefragt sei nun die Politik. Das Bürgergeld müsse erhöht werden, fordert der Tafel-Vorsitzende. Er schlägt außerdem vor, KfZ-Steuern oder Entsorgungsgebühren zu erlassen, um der steigenden Armut entgegenzuwirken. Für Brühl gilt: „Alle Menschen müssen von ihrer Arbeit ein Leben in Würde und Selbstbestimmung führen können.“