Schottland sucht neuen Kompass: wo geht‘s hier aus dem Königreich?
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Hinter der Altstadt von Edinburgh ragt ein Felsen empor.
© Quelle: Larissa Schwedes/dpa
Edinburgh/St. Andrews. Alan Steven war dafür. Als man im Jahr 2014 darüber abstimmte, ob Schottland dem Vereinigten Königreich Goodbye sagen und unabhängig werden solle, setzte der Landwirt sein Kreuzchen bei „Yes“. Heute wie damals baut Steven in der Nähe der schottischen Universitätsstadt St. Andrews Rosenkohl, Kartoffeln und Getreide an - doch seine Meinung hat sich geändert: Ohne die britische Zentralregierung und mit mehr Macht für Edinburgh wären er und sein Land besser dran? Das glaubte er vor achteinhalb Jahren wirklich. Heute würde Steven nicht noch einmal „Yes“ ankreuzen.
„Es ist nicht die richtige Antwort“, sagt er beim morgendlichen Tee auf seinem Bauernhof zwischen Traktoren und Wagenladungen voller „Tatties“, wie hier die Kartoffeln genannt werden. Ganz anders sieht das Nicola Sturgeon. Die prominenteste Vertreterin der Unabhängigkeitsbewegung tritt in der kommenden Woche als Ministerpräsidentin der schottischen Regierung und von ihrem Amt als Chefin der Schottischen Nationalpartei (SNP) zurück. Sturgeon und die Vision von einem unabhängigen Schottland, das gehört zusammen wie der Big Ben und London. Also: Wie geht das eine ohne die andere?
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Der Landwirt Alan Steven steht auf einem Feld in der Nähe der schottischen Stadt St. Andrews. Er hat 2014 für Schottlands Unabhängigkeit gestimmt, aber mittlerweile seine Meinung geändert.
© Quelle: Larissa Schwedes/dpa
Die Welt ist heute eine andere
Die Welt im Jahr 2023 ist in vielerlei Hinsicht eine andere als 2014, als die Schottinnen und Schotten mit einer Mehrheit von gut 55 Prozent dagegen votierten, sich von Großbritannien loszulösen. Zwischen damals und heute liegen nicht nur eine Pandemie und der Beginn eines Krieges in Europa. Auch der Brexit hat die Lage fundamental verändert. Für manche ist das ein zentrales Argument, erneut abzustimmen und so schnell wie möglich wieder der EU beizutreten. Immerhin haben 2016 in Schottland - anders als im Rest des Königreichs, wo der EU-Austritt insgesamt mehr Fans als Gegner hatte - weniger als 40 Prozent der Wähler für den Brexit gestimmt.
Alan Steven gehörte zu dieser Minderheit und bereut das auch nicht, auch wenn der Brexit ihm neue Probleme beschert hat. Dank Bürokratie und zusätzlicher Kontrollen kostet ihn der Transport von Saatgut heute manchmal 14 Tage - früher waren es zwei. Aber die Erfahrung hat den Landwirt skeptisch werden lassen. Eine EU-Außengrenze, wie sie dann wohl zwischen Schottland und England verlaufen würde, könnte auch für ihn drastische Konsequenzen haben: Der Markt vor der eigenen Haustür ist neben dem schottischen der wichtigste für sein Gemüse. Für Steven bedeutet die „Brexit-Lektion“, Versprechen von Politikerinnen und Politikern weniger Vertrauen zu schenken.
Rücktritt von Sturgeon „wirft uns auf jeden Fall zurück“
Um ihr erklärtes Ziel eines unabhängigen Schottlands zu erreichen, muss die regierende Schottische Nationalpartei (SNP) Menschen wie Alan Steven zurückgewinnen. Sturgeon wird diesen Kampf künftig nicht mehr anführen. Nach mehr als acht Jahren an der Spitze tritt sie aus persönlichen Gründen ab - und hinterlässt eine große Aufgabe. Die 52-Jährige war auch international das bekannteste Gesicht der schottischen Unabhängigkeitsbewegung, ihr Abgang hat viele Gleichgesinnte geschockt.
„Das wirft uns auf jeden Fall zurück - vielleicht um einige Jahre“, meint Jane Philips, die sich in der „Yes“-Hochburg Dundee in einer lokalen Pro-Unabhängigkeits-Gruppe engagiert. Die Lehrerin im Ruhestand ist SNP-Mitglied und damit eine von denjenigen, die darüber entscheiden dürfen, wer auf Sturgeon folgen wird. Das Ergebnis der Urabstimmung soll am Montag um die Mittagszeit vorliegen.
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Die Unabhängigkeitsaktivistin Jane Philips aus Dundee steht in der schottischen Stadt St. Andrews vor einem Torbogen und einer schottischen Flagge. Sie engagiert sich in einer lokalen Gruppe für die Unabhängigkeit Schottlands.
© Quelle: Larissa Schwedes/dpa
Bisheriger Gesundheitsminister Yousaf ist Favorit
Zwei Kandidatinnen und ein Kandidat stehen zur Auswahl - und Philips hat sich bereits entschieden. „Auch wenn sie mir eigentlich zu konservativ ist, habe ich Kate Forbes meine Stimme gegeben“, verrät sie. „Sie ist Pragmatikerin, sie kennt sich mit Finanzen aus. Wir müssen einfach zeigen, dass wir es können.“ Viele Parteimitglieder rechnen dennoch damit, dass der bisherige Gesundheitsminister Humza Yousaf das Rennen machen wird. Er gilt als eine Art politischer Erbe Sturgeons mit einer ähnlich progressiven Agenda. Die dritte Kandidatin, Ash Regan, liegt in Umfragen abgeschlagen hinten.
Die seit fast 13 Jahren in London regierendenden Konservativen haben es in Schottland schwer, das Regionalparlament dort verfolgt durchweg eine liberalere Politik als die Tories. Die Schotten definieren sich zudem als Gesellschaft, die Einwanderung wirtschaftlich wie kulturell stärker schätzt und benötigt, weshalb viele Bürger den von London propagierten Anti-Migrations-Kurs ablehnen.
Schottland will attraktiver Handelspartner sein
Im Falle der Unabhängigkeit will die schottische Regierung ihr Land zurück in die EU führen - und damit die Freizügigkeit sowie den freien Handel mit dem lukrativen Markt auf dem Festland zurückgewinnen. Das Credo: Ein starker Fokus auf den Ausbau erneuerbarer Energien und Wasserstoff soll Schottland zum attraktiven Handelspartner machen.
Kritiker halten dagegen, Schottland könne ökonomisch nicht ohne den Rest des Vereinigten Königreichs bestehen. Sie fürchten eine Art Mini-Brexit mit neuen Handelsbarrieren und viel zusätzlicher Bürokratie. Und auch das Schreckensszenario, dass der nach dem Brexit ohnehin schon gesunkene Einfluss Großbritanniens auf politischer und wirtschaftlicher Ebene noch weiter schwinden könnte, wenn das Königreich ein wichtiges Mitglied einbüßt.
„Das wird sein wie bei den Tories - nur mit roter Krawatte“
Alle SNP-Kandidaten kündigen an, die Unabhängigkeit in den nächsten Jahren zu forcieren. Doch weil die Regierung in London ein weiteres Referendum blockiert und auch das höchste britische Gericht dem Plan einen Dämpfer verpasste, muss ein neuer Weg ausgehandelt werden.
Trotz aller Vorbehalte gegen die Tories: Manche aus dem „Yes“-Lager in Schottland befürchten, dass eine mögliche Labour-Regierung nach der nächsten britischen Parlamentswahl mehr Zugeständnisse einräumt, so dass Anreize für eine echte Unabhängigkeit schwinden könnten. Jane Philips, früher selbst Labour-Wählerin, erwartet dagegen kaum Veränderung in dieser Frage: „Das wird sein wie bei den Tories - nur mit roter Krawatte.“
RND/dpa