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Strategiepapier des Kreml

„Eher ein Hoffnungsszenario“: Was an Russlands Plänen für das Baltikum dran ist

Auf dem Truppenübungsplatz Paprade in Litauen führten Nato-Soldaten im vergangenen März die Übung „Griffin Lightning“ unter Beteiligung von Bundeswehrsoldaten des deutschen Jägerbataillons 413 durch.

Auf dem Truppenübungsplatz Paprade in Litauen führten Nato-Soldaten im vergangenen März die Übung „Griffin Lightning“ unter Beteiligung von Bundeswehrsoldaten des deutschen Jägerbataillons 413 durch.

Berlin. Erst Belarus, dann Moldau, und nun auch noch das Baltikum: Ein geleaktes Strategiepapier des Kreml deckt auf, wie Moskau in Estland, Lettland und Litauen an Einfluss gewinnen will. Die Dokumente wurden von einem Investigativkonsortium aus NDR, WDR und „Süddeutscher Zeitung“ sowie weiterer internationaler Medien ausgewertet. Auch das nun veröffentlichte Dokument soll von der „Direktion für die grenzübergreifende Zusammenarbeit“ stammen, die der russischen Präsidialverwaltung unterstellt ist.

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Demnach geht es dem Kreml im Baltikum vor allem darum, seinen politischen Einfluss auszu­bauen. Dazu sollen laut den Berichten prorussische Kräfte in den Baltenstaaten unterstützt werden. Zudem wolle Moskau die russischsprachige Bevölkerung der drei Länder vor angeb­licher Diskriminierung schützen. Vor allem aber solle verhindert werden, dass das trans­atlantische Militärbündnis Nato sich nicht weiter in der Region ausbreitet.

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Anders als Belarus und Moldau sind Estland, Lettland und Litauen bereits Mitglieder der Nato. Moskau geht es aber offenbar darum, dass die Allianz ihre Abschreckung in der Region nicht weiter ausbaut. Dazu sollen laut den Recherchen die „Einrichtung von Nato-Stützpunkten“ in Lettland und Litauen verhindert werden. In Litauen geht es dabei offenbar besonders um die Aufstellung von Flugabwehrsystemen für Mittelstreckenraketen. NDR und WDR zufolge machen prorussische Bündnisse wohl bereits Stimmung gegen die Erweiterung von Militär­standorten im Baltikum. Dazu nutzten sie Desinformation in sozialen Netzwerken.

Zum Erreichen seiner Ziele plane Russland zudem den Aufbau freundlich gesinnter Strukturen wie Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen. Zudem sehe der Kreml seine Energie­ressourcen als mögliches politisches Druckmittel. In diesem Punkt wird besonders deutlich, dass das Dokument, wie NDR und WDR berichten, bereits aus dem Jahr 2021 stammen soll. Denn unter dem Eindruck russischer Aggressionen in der Region und der Invasion in die Ukraine forcieren die Baltenstaaten längst die Unabhängigkeit von russischen Energien.

Wie authentisch sind die Pläne des Kreml?

„Ich halte das Papier für sehr authentisch“, sagt die Historikerin Susanne Schattenberg von der Universität Bremen dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Die Kremlpläne passten „absolut“ in die Politik Moskaus, die man in den vergangenen Jahren bereits gesehen habe, erklärt die Expertin für Zeitgeschichte Osteuropas mit Blick auf Wahlmanipulationen etwa in den USA und Einflussnahmen auch hier in Deutschland.

So sieht es auch Karsten Brüggemann, der das historische Institut an der Universität von Tallinn leitet. Auch er hält die in dem Papier kolportierten Pläne des Kreml für authentisch – aber nicht für überraschend. „Das, was in dem Bericht steht, machen die Russen schon seit 20 Jahren ohne Erfolg“, sagt Brüggemann dem RND.

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Die Papiere zum Baltikum, zu Belarus und zur Republik Moldau könnten in eine „Gesamt­strategie“ des Kreml rund um die Angriffspläne für die Ukraine passen, vermutet Schatten­berg. Gleichzeitig habe man im Jahr 2021, als die Papiere verfasst wurden, auch in Russland selbst harte Repressionen durchgesetzt. „Damals hat Moskau hart gegen die Presse im eigenen Land, aber auch gegen den Oppositionellen Andrej Nawalny oder die Menschen­rechtsorganisation Memorial durchgegriffen“, erinnert die Geschichtswissenschaftlerin.

Was unterscheidet die Kremlpläne für das Baltikum von der Strategie für Belarus und Moldau?

Anders als in den Fällen Belarus und Moldau offenbart die nun geleakte Kremlstrategie für das Baltikum keine Pläne, sich die drei Länder wieder einzuverleiben. Estland, Lettland und Litauen waren bis 1990 Teil der Sowjetunion, machten sich jedoch auch als Erstes von Moskau unabhängig. Gegenüber der „Tagesschau“ sagte der Baltikum-Experte Kai-Olaf Lang, diese Episode stelle bis heute für den Kreml eine „geopolitische Demütigung“ dar. Der russische Präsident Putin nannte den Fall der Sowjetunion bereits 2004 eine „gesamtnationale Tragödie von gewaltigen Ausmaßen“ und legte ein Jahr später nach: Dass die Supermacht in sich zerfiel, sei „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ gewesen.

Die Pläne Russlands für die Ex‑Sowjetrepublik Belarus hingegen sehen eine Einverleibung des Nachbarlands bis 2030 vor. Demnach verfolge Moskau außerdem auch eine „Sicherstellung des vorherrschenden Einflusses der Russischen Föderation in den Bereichen Gesellschafts­politik, Handel, Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung und Kultur“ in Belarus.

Im Falle der Republik Moldau verfolgt der Kreml offenbar keine Einverleibung des kleinen Landes zwischen der Ukraine und Rumänien. Dafür solle das Land aber laut einem Strategie­papier als „prorussisch orientierter Puffer“ genutzt werden. Zudem solle auch in der kleinen Republik ein natofeindliches Klima geschaffen werden.

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Dass Russland offenbar im Baltikum keine Invasionspläne verfolgt, sei wohl reiner Pragma­tismus, vermutet Susanne Schattenberg. Zum einen seien die drei Länder als Nato-Mitglieder sehr gut geschützt. Zum anderen aber würden sowohl Belarus als auch Moldau vom Kreml vielmehr als historischer Teil Russlands gesehen als Estland, Lettland und Litauen. „Die Balten­staaten gelten eher als separater Teil“, erklärt die Historikerin.

Können die russischen Pläne für das Baltikum erfolgreich sein?

„Moskaus Strategie kann im Baltikum eher keinen Fuß fassen“, schätzt Schattenberg die Erfolgschancen der russischen Pläne ein. Dennoch könne der Kreml mittels politischer Organisationen möglicherweise für Unruhe sorgen, besonders unter der russischsprachigen Bevölkerung der drei Baltenstaaten. Auch Angriffe aus Russland auf die Energieinfrastruktur der Baltenstaaten hält sie für möglich. Das Baltikum sei jedoch darauf vorbereitet, dass Russland seine Energieressourcen als Waffe einsetzen könnte.

Gerade angesichts der westliche Orientierung des Großteils der Bevölkerungen der baltischen Staaten schätzt Baltikum-Experte Brüggemann die Kremlpläne als „ziemlich naiv“ ein. „Es handelt sich wohl viel eher um ein Hoffnungsszenario der Kremlführung als um eine realis­tische Strategie“, glaubt Brüggemann. Die Erwartungshaltung in Russland dürfte weitaus größer sein als die tatsächlichen Erfolgschancen dafür, im Baltikum eine prorussische Stimmung zu erschaffen. „Die sogenannten Russen im Baltikum werden kaum mit wehenden Fahnen nach Russland zurückkehren“, meint der Historiker mit Blick auf die russischsprachige Bevölkerung der baltischen Staaten. Diese Gruppe sei viel zu heterogen für eine erfolgreiche Einflussnahme durch Russland.

Der Faktor Russland und die Haltung von Parteien zu dem Nachbarn spielten zwar politisch immer wieder eine Rolle. Dennoch könne man laut Brüggemann nicht davon sprechen, dass Moskau tatsächlich einen Einfluss auf die Politik der Baltenstaaten habe. Vielmehr gebe es bereits einige Maßnahmen, die die Präsenz der russischen Kultur und Politik in der Öffent­lichkeit verringern sollen. In Estland gebe es etwa keine russischen Durchsagen an Bahnhöfen mehr, die vor dem Angriffskrieg gegen die Ukraine noch normal waren.

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Auch energiepolitisch versuchen die Baltenstaaten bereits, sich immer mehr von Russland zu lösen. Litauen hat sein Stromnetz am vergangenen Wochenende erstmals allein und völlig unabhängig von Russland betrieben. Für den isolierten Betrieb des Netzes hat das baltische EU- und Nato-Land am Samstag für zehn Stunden alle Verbindungen zum russischen Stromnetz unterbrochen. Der Test sei erfolgreich verlaufen, teilte der litauische Netzbetreiber Litgrid am Samstagabend mit. Die Probeabkopplung blieb für den Stromverbraucher unbemerkt und diente zur Vorbereitung zur geplanten Synchronisation des Netzes mit Westeuropa.

mit dpa-Material

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