Alles auf null: Wenn Propaganda mehr Wert hat als Menschenleben
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Ein Mann in einem Schutzanzug steht Anfang April 2022 inmitten leerer Straßen in einem abgesperrten Gebiet im Westen von Shanghai. (Archivbild)
© Quelle: Chen Si/AP/dpa
Peking. Die junge Frau versteckt sich hinter der abgeschlossenen Wohnungstür, mit ihrem Smartphone dokumentiert sie die drohende Katastrophe. „Die Seuchenschutzbehörde hatte versprochen, dass sie mein Testergebnis erst noch überprüfen wird, ehe sie etwas unternimmt“, ruft sie ängstlich in den Hausflur, wo die Polizisten bereits lautstark anrücken. Ohne zu zögern tritt einer der Beamten mit neun kraftvollen Stößen die hölzerne Wohnungstür ein. Der Mann – gekleidet in einen weißen Ganzkörperanzug – überrumpelt die Frau. Sie wird schließlich in eines der unzähligen Isolationslager geschleppt.
Überlegenheit demonstrieren
Seit über einem Monat hält der weltweit größte Lockdown der Welt nunmehr an. Was in Shanghai passiert, legt auch auf eindrückliche Weise offen, wie weit die chinesische Staatsführung unter Xi Jinping bereit zu gehen ist, um ihre politischen Ziele zu erreichen.
Denn der Kampf gegen das Virus ist längst auch zur Propagandaschlacht geworden, bei der das Wohl der Bevölkerung immer öfter nur als Vorwand dient. Es geht vielmehr darum, zu beweisen, was die Regierung ihren Bürgern seit bereits zwei Jahren täglich eintrichtert: dass China als einziges Land der Welt es schafft, sein Staatsgebiet virusfrei zu halten. Null Covid ist zum Symbol für die vermeintliche Überlegenheit des eigenen Systems gegenüber dem Westen geworden. Und nun droht es sich ins Gegenteil zu verkehren: Die epidemiologische Null-Covid-Strategie legt schonungslos die Schwächen der chinesischen Diktatur offen.
„Das ist ein Breitbandschaden für die Wirtschaft, die befindet sich zum Teil im freien Fall“, sagt Jörg Wuttke, Präsident der europäischen Handelskammer in Peking. Seit den 1980er-Jahren lebt der Manager bereits im Land, doch einen solch rasanten Umschwung wie in den letzten Monaten hat der Deutsche noch nicht erlebt: von Sonnenscheinoptimismus hin zur Trauerstimmung in wenigen Wochen.
Der 1. April hat alles verändert. Damals sperrten die Behörden die knapp 26 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner Shanghais in ihre Wohnungen ein. Der radikale Lockdown löste eine humanitäre Katastrophe aus, wie sie noch vor wenigen Monaten als undenkbar gegolten hatte: In der wohlhabendsten und größten Stadt des Landes brach die Nahrungsmittelversorgung über mehrere Wochen zusammen, sodass selbst Multimillionäre und Banker auf den sozialen Medien verzweifelte Hilfeschreie absetzten. Die Ausgangssperren führten dazu, dass an Asthma-Erkrankte, Diabetikerinnen und Diabetiker sowie Krebspatientinnen und -patienten starben, weil ihnen der Einlass in die Krankenhäuser verwehrt wurde. Und Hunderttausende Infizierte wurden gegen ihren Willen in Massenlager abtransportiert, in denen hygienische Zustände wie in den Slums der Dritten Welt herrschten.
Corona-Sperrzonen in China: Peking testet, Shanghai öffnet
In der Hauptstadt Peking wollen die Behörden einen Corona-Ausbruch unbedingt eindämmen. In Shanghai durften Bewohner zum ersten Mal seit Wochen wieder raus.
© Quelle: Reuters
„Natürlich war ich mir schon vorher darüber bewusst, wozu das Regime hier fähig ist. Doch die letzten Wochen haben das noch mal eindrücklich bewiesen“, sagt ein europäischer Korrespondent, der seinen Umzug aus dem Land bereits geplant hat. Wie er wollen derzeit viele Ausländerinnen und Ausländer Shanghai einfach nur noch verlassen.
Es dauerte nicht lange, bis sich der Frust und die Verzweiflung der Bewohnerinnen und Bewohner immer offener entluden – in Handgemengen mit den Nachbarschaftskomitees, in Supermarktplünderungen und Schreichören aus den Fenstern. Als die Anwohnenden einer Apartmentsiedlung mit Kochlöffeln und Töpfen auf ihre Situation aufmerksam machten, hatte die Polizei schon bald einen Sündenbock gefunden: „Ausländische Kräfte stacheln die Menschen in Shanghai an, gegen die Pandemieprävention zu protestieren“, heißt es in einer offiziellen Stellungnahme.
Internetzugang abgeschaltet
Auch in der Fudan-Universität, einer der Elitekaderschmieden des Landes, sind die Studierenden auf die Barrikaden gegangen. „Das ist eine Universität und kein Konzentrationslager“ haben sie an die Wände ihres Wohnheims geschrieben. Als sie sich zum Protest zusammentaten, schalteten die Behörden kurzerhand den Internetzugang auf dem Campus ab und schickten die Bereitschaftspolizei.
Dabei haben die jungen Chinesinnen und Chinesen allen Grund zur Revolte. Die meisten Universitäten in Shanghai sind bereits seit über zwei Monaten abgesperrt. Studierende berichten, dass sie über Wochen ihre Sechsbettzimmer nicht verlassen dürften. Bis heute wird ihr Alltag bis ins Detail vom sogenannten Gesundheitscode bestimmt, den jeder auf seinem Handy mit sich führt: An der Universität Shanghai etwa dürfen die Doktoranden die kommunalen Waschräume nur alle zwei Tage für wenige Stunden aufsuchen.
In den Quarantänelagern der Stadt müssen die Insassinnen und Insassen gleich ganz auf Duschräume verzichten. In den riesigen Anlagen, in denen Zehntausende Infizierte vor sich hin vegetieren, bleiben zum Säubern lediglich Waschbecken, Lappen und Plastikeimer. In Hangarhallen liegen die Leute auf Campingbetten, bis sie irgendwann nach zwei negativen Covid-Tests in ihre Wohnungen entlassen – und dort weiter eingesperrt werden.
Strategie nicht überdacht
Damit sich eine ähnliche Tragödie in der Hauptstadt Peking nicht wiederholt, haben die Behörden keineswegs ihre Null-Covid-Strategie überdacht. Im Gegenteil: Sie greifen viel früher hart durch. Bereits nach 200 Corona-Fällen im Pekinger Stadtgebiet hat die Lokalregierung das Essen in Restaurants verboten, die Kinos geschlossen und eine strikte Testpflicht eingeführt. Wer keinen negativen PCR-Test aus den letzten 48 Stunden vorweisen kann, wird nicht einmal in den Supermarkt gelassen.
Um sich für einen drohenden Lockdown zu rüsten, haben praktisch sämtliche Hauptstadtbewohner ihre Vorratsspeicher aufgefüllt, manche sogar neue Tiefkühlfächer und Kühlschränke gekauft.
Berechnungen des RKI: 7 Prozent der Bevölkerung weder geimpft noch genesen
Die Autoren der Studie machen deutlich, dass in der restlichen Bevölkerung kein einheitliches Maß an Schutz anzunehmen ist.
© Quelle: dpa
Doch insbesondere die älteren Chinesinnen und Chinesen bleiben optimistisch. „Ich glaube nicht, dass es zum Lockdown wie in Shanghai kommt“, sagt Li Dong, 72 Jahre alt, der in einer der traditionellen Hutong-Siedlungen im Stadtzentrum wohnt. Er habe Vertrauen in die Behörden, sagt der Antiquitätenhändler: „Wenn nun auch die Hauptstadt fällt, was soll dann aus unserem Land werden?“
Dogmatischer Staatschef
Xi Jinping selbst kann darauf keine andere Antwort finden als Abschotten und Isolieren. Dass der 68-jährige Staatschef so dogmatisch an seiner Nulltoleranzstrategie festhält, hat auch damit zu tun, dass diese zuvor funktioniert hat. Bis Jahresanfang hatten die Lockdowns nur einen Bruchteil der Bevölkerung betroffen und waren zeitlich begrenzt geblieben.
Der Großteil der 1,4 Milliarden Chinesinnen und Chinesen hatte bereits seit Frühjahr 2020 einen normalen Alltag, wie er in vielen Teilen der Welt erst jetzt langsam wieder möglich ist. Doch spätestens mit der hochinfektiösen Omikron-Variante hat der Preis von Null Covid dessen Nutzen deutlich überstiegen: Laut Schätzungen des Pekinger Marktforschungsinstituts Gavekal Dragonomics war im April rund ein Viertel der Bevölkerung von den flächendeckenden Ausgangssperren betroffen.
Selbst Zhong Nanshan, der als führender Gesundheitsexperte des Landes gilt, hat unlängst in einer akademischen Publikation eingeräumt, dass die Volksrepublik China ihre Null-Covid-Strategie langfristig nicht aufrechterhalten könne. Doch anstatt sich auf eine inhaltliche Debatte einzulassen, wurde der Beitrag des 85-Jährigen schlicht vom Zensurapparat gelöscht.
Denn Chinas Kurs ist unweigerlich mit der Person Xi Jinpings verknüpft. Dieser wird weiterhin stur an seiner Strategie festhalten. Im Blick hat Chinas Chefideologe dabei vor allem den Parteikongress der Kommunistischen Partei im Herbst, bei dem die dritte Amtszeit für ihn ausgerufen werden soll – als ersten Staatschef seit Mao Tse-Tung. Dabei soll nichts die Machtdezementierung gefährden – weder kritische Stimmen noch ein unberechenbares Virus.
Damit sein Plan aufgehen kann, braucht es einen immer totalitäreren Zensurstaat. In den Abendnachrichten des Staatsfernsehens werden täglich die Corona-Toten in den Vereinigten Staaten angesagt, während China als Land der Seligen gepriesen wird. Selbst wissenschaftliche Debattenbeiträge über eine mögliche Öffnung des Landes werden auf den sozialen Medien ausradiert.
Ein alternder Heerscher
Doch diejenigen Chinesen, die mithilfe illegaler VPN-Software auch kritische Informationen aus dem Ausland konsumieren, haben dem 68-jährigen Xi bereits den zynischen Spitznamen „Kaidaoche“ verpasst: ein alternder, von Persönlichkeitskult umnebelter Herrscher, der sein Land im Rückwärtsgang gegen die Wand fährt. Bei Mao stand am Ende das traumatische Chaos der Kulturrevolution. Xi Jinping hingegen läuft Gefahr, sein Land in die wirtschaftliche Rezession zu führen.
Zumindest in Shanghai flackerte die Hoffnung auf ein Ende des Lockdowns auf. Am vergangenen Wochenende schien sich die Situation deutlich verbessert zu haben. Die Behörden hatten erstmals keine lokalen Infektionen außerhalb der designierten Quarantänebereiche vermeldet. Mehrere Millionen Menschen durften endlich die leeren Straßen betreten.
Doch schon am Montag folgte ein herber Rückschlag: Die nationale Gesundheitskommission hat erneut einen Infektionsstrang außerhalb der abgesperrten Bereiche entdeckt. Dort haben sich mindestens 58 Menschen infiziert. Sämtliche Nachbarinnen und Nachbarn von jedem Einzelnen und jeder Einzelnen von diesen werden nun für 14 Tage wieder in ihre Wohnungen gesperrt.
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