„Pflege in Not“: Wenn die Behandlung selbst zum Patienten wird

Eine Mitarbeiterin der Pflege betreut einen Covid-Patienten im nordrhein-westfälischen Essen. In einer neuen Serie zeigt das RND, was in der Pflege schief läuft – und welche Lösungen es geben kann.

Eine Mitarbeiterin der Pflege betreut einen Covid-Patienten im nordrhein-westfälischen Essen. In einer neuen Serie zeigt das RND, was in der Pflege schief läuft – und welche Lösungen es geben kann.

Berlin. Die Pflege ist ein Pflegefall. Und sie ist – um im Bild zu bleiben – kein leichter Fall, sondern gehört in den höchsten Pflegegrad. Die Corona-Pandemie hat die Lage noch verschärft, und auch der breiten Öffentlichkeit eindringlich vor Augen geführt, dass es in der Kranken- und noch mehr in der Altenpflege große Missstände gibt.

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Zwar haben diverse Bundesregierungen unterschiedlicher Couleur in den vergangenen Jahren immer wieder an einigen Stellschrauben gedreht, doch dabei wurde die Situation teilweise sogar verschlimmbessert. Umfassende Reformen aus einem Guss wurden nicht in Angriff genommen, sei es aus mangelndem politischen Willen, sei es aus Geldmangel.

Dabei ist der inzwischen zum Allgemeingut gewordene Begriff „Pflegenotstand“ keine Übertreibung. Es ist eine treffende Beschreibung.

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Personalnot in den Krankenhäusern

Es war der Krankenpfleger Alexander Jorde, der im Wahlkampf 2017 für Schlagzeilen sorgte, weil er Kanzlerin Angela Merkel (CDU) vor laufenden Kameras mit forschen Fragen in Bedrängnis brachte. Er sprach von Patienten, die stundenlang in ihren Ausscheidungen liegen müssten und davon, dass die vom Grundgesetz garantierte Würde des Menschen in deutschen Krankenhäusern „tagtäglich tausendfach verletzt“ werde. Vom „Pfleger, der Angela Merkel sprachlos machte“, schrieben Medien danach.

Intensiv-Krankenpfleger Alexander Jorde aus Niedersachsen ist 2017 bekannt geworden, als er Kanzlerin  Merkel (CDU) in der ARD-Wahlkampfarena mit seinen Arbeitsalltag konfrontierte. Er hat inzwischen ein Buch geschrieben und äußert sich zur Belastung der Pfleger in der Corona-Krise.

Intensiv-Krankenpfleger Alexander Jorde aus Niedersachsen ist 2017 bekannt geworden, als er Kanzlerin Merkel (CDU) in der ARD-Wahlkampfarena mit seinen Arbeitsalltag konfrontierte. Er hat inzwischen ein Buch geschrieben und äußert sich zur Belastung der Pfleger in der Corona-Krise.

Was Jorde als Azubi selbst erlebte, war die Folge eines Systemfehlers. Weil die Krankenhäuser seit 2004 pauschal pro Fall bezahlt werden, wurde jahrelang versucht, mit möglichst vielen Ärzten möglichst viele Eingriffe vorzunehmen. Die Pflege war in dieser Kalkulation nur ein lästiger Kostenfaktor mit der Folge, dass hier beim Personal gespart wurde. Ärzte bringen Geld, die Pfleger kosten nur, war das Credo.

Image der Pflege ist schlecht

Erst die letzte große Koalition beendete diese Entwicklung. Seitdem werden die Personalkosten für die Pflege von den Krankenkassen extra bezahlt. Doch inzwischen ist das Image der Pflege so miserabel, dass es nicht ansatzweise genug Mitarbeiter für die zu besetzenden Jobs gibt, obwohl die Einkommen im Vergleich zu anderen Berufsgruppen gar nicht so schlecht sind. Derzeit gibt es rund 16.000 offene Stellen in der Krankenpflege. Tendenz steigend.

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Bei einer kürzlich veröffentlichten Umfrage der Deutschen Krankenhausgesellschaft gaben 72 Prozent der befragten Kliniken an, weniger Intensivpflegepersonal zur Verfügung zu haben als noch Ende 2020. Als Gründe wurden vermehrte Kündigungen und Arbeitszeitverkürzungen angegeben. Ursache seien die verschärften und andauernden Belastungen durch die Corona-Pandemie, so die Krankenhausgesellschaft.

Gerald Gaß, Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft.

Gerald Gaß, Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft.

Der Personalmangel hat ganz konkrete Folgen: Wurden dem Klinikintensivregister Anfang Januar noch mehr als 26.000 betreibbare Intensivbetten gemeldet, sind es derzeit nur noch etwa 22.000. „Spätestens in der Pandemie musste jeder verstehen, dass eine der höchsten Bettendichten der Welt und modernste Medizintechnik allein keine Kranken versorgen können“, mahnt Verbandschef Gerald Gaß.

Miese Bezahlung in der Altenpflege

In der Altenpflege geht es zwar nicht gleich um Leben und Tod. Die Lage ist aber noch komplexer als in der Krankenpflege. Denn hier kommen mehrere Probleme zusammen. Da wäre zunächst die miese Bezahlung der Pflegekräfte, weil es in der Branche bis heute nicht gelungen ist, flächendeckend Tarifverträge durchzusetzen.

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Auf der einen Seite wehrt sich ein Großteil der Betreiber von Pflegeeinrichtungen und -diensten dagegen, auf der anderen Seite sind die Beschäftigten kaum gewerkschaftlich organisiert und haben es deshalb schwer, angemessene Lohnsteigerungen durchsetzen zu können. Zwar sind die Einkommen in der Altenpflege in den vergangenen zehn Jahren kräftig gestiegen.

Der Abstand zur Krankenpflege ist aber kaum geringer geworden. Derzeit verdienen Fachkräfte in der Altenpflege im Mittel mit 3174 Euro brutto knapp 500 Euro im Monat weniger als examinierte Krankenpfleger. Bei den Helferberufen ist der Abstand sogar noch größer.

Bis 2035 könnten 300.000 Pflegekräfte zusätzlich nötig sein

Mindestens 20.000 offene Stellen beklagt die Altenpflegerbranche derzeit. Der tatsächliche Bedarf, um die Arbeitsbelastung der Pflegekräfte auf ein erträgliches Maß zu senken und damit die Pflegebedürftigen wieder angemessen zu versorgen, liegt aber weit höher.

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So kommt der Pflegeforscher Heinz Rothgang von der Universität Bremen zu dem Schluss, dass zusätzlich rund 120.000 Pflegekräfte eingestellt werden müssten. Nach Berechnungen des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) steigt die Lücke bis 2035 auf mehr als 300.000, denn wegen der Alterung der Gesellschaft wächst auch die Zahl der Pflegebedürftigen immer weiter.

Sollten die Einkommen in der Altenpflege nicht bald deutlich steigen, wird der Fachkräftemangel auch durch einen Kannibalisierungseffekt verstärkt, vor dem Experten schon früh gewarnt hatten: Durch die – grundsätzlich richtige – Zusammenlegung der Alten- und Krankenpflegeausbildung kommen verstärkt junge Leute in den Beruf, die wesentlich einfacher zwischen den Zweigen wechseln können. Warum soll jemand in einem Pflegeheim arbeiten, wenn er als Krankenpfleger in der Klinik deutlich mehr Geld verdienen kann?

Auch das Anwerben von Pflegekräften aus dem Ausland ist offensichtlich keine Lösung, um die offenen Stellen besetzen zu können. Bisher sind alle Versuche gescheitert, Fachkräfte aus Vietnam oder Mexiko in nennenswertem Umfang zu rekrutieren.

Pflege wird zum Armutsrisiko für Familien

In der Altenpflege kommt – anders als nunmehr im Krankenhaus – erschwerend hinzu, dass die Finanzierung durch die Sozialversicherung nicht gesichert ist. Zwar wurde die Pflegeversicherung 1995 nur als „Teilkasko“-Versicherung mit einer gewissen Selbstbeteiligung der Versicherten eingeführt.

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Mittlerweile haben die Eigenanteile im Pflegeheim aber mit durchschnittlich 2125 Euro pro Monat Summen erreicht, die viele Pflegebedürftige nicht mehr aus eigener Kraft zahlen können, weshalb sie auf Sozialhilfe (Hilfe zur Pflege) angewiesen sind. Bei der Pflege zu Hause gibt es einen ähnlichen Wertverlust der Versicherungsleistungen. Er fällt nur nicht so auf, weil ihn die pflegenden Angehörigen durch die eigene Mehrarbeit ausgleichen (müssen).

„Pflege darf kein Armutsrisiko sein“, mahnt etwa der Vorstandschef der Krankenkasse DAK, Andreas Storm. Er setzt sich für den Vorschlag von Pflegeforscher Rothgang ein, die Eigenanteile zu deckeln. Die kurz vor der Bundestagswahl von Union und SPD beschlossene kleine Pflegereform ist dagegen nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Sie wird für Heimbewohner und Heimbewohnerinnen lediglich kurzzeitig eine Entlastung bringen.

Auch in Zukunft wird perspektivisch rund ein Drittel der Heimbewohner und Heimbewohnerinnen auf Hilfe zur Pflege angewiesen sein und dieser Anteil wird sogar zunehmen.

Heinz Rothgang,

Pflegeforscher

24-Stunden-Pflege: eine weitere Großbaustelle

Auch bei der Pflege zu Hause sind dringend Reformen nötig. Die Leistungen sind nicht nur zu gering, sie sind auch häufig so ausgestaltet, dass sie Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen wenig nutzen. Der Leistungskatalog sei schwer durchschaubar, kleinteilig und unflexibel, beklagt der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus.

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Andreas Westerfellhaus ist Staatssekretär für Gesundheit und Pflegebevollmächtigter der Bundesregierung.

Andreas Westerfellhaus ist Staatssekretär für Gesundheit und Pflegebevollmächtigter der Bundesregierung.

Wer als Pflegebedürftiger beispielsweise mehr professionelle Pflege als vorgesehen nutzen möchte, zahle aus eigener Tasche drauf, während sein Anspruch auf die sogenannte Tagespflege verfalle. „Die Leistungen müssen den Menschen folgen, nicht umgekehrt“, mahnt er und fordert ein Pflegebudget, aus dem je nach Lebenssituation passgenaue Leistungen abgerufen werden können.

Westerfellhaus verlangt zudem eine rechtssichere Ausgestaltung der in Deutschland weit verbreiteten 24-Stunden-Pflege – eine weitere Großbaustelle in der Altenpflege. Nach Schätzungen arbeiten in Deutschland etwa 300.000 Pflegekräfte aus Osteuropa zumeist illegal rund um die Uhr in Privathaushalten. Es ist für viele Pflegebedürftige der einzige Weg, um wie gewünscht in der eigenen Wohnung bleiben zu können.

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Keine Partei liefert die nötigen Konzepte

In einem wegweisenden Grundsatzurteil urteilte das Bundesarbeitsgericht im Frühsommer jedoch völlig zu Recht, dass den Pflegekräften der Mindestlohn zusteht, auch für Bereitschaftszeiten. Das stellt die betroffenen Familien nun oft vor kaum lösbare Herausforderungen. Doch bisher hat keine Partei Konzepte vorgelegt, wie der offensichtlich hohe Bedarf nach einer Rund-um-die-Uhr-Pflege zu Hause legal, fair entlohnt und dennoch für die Familien bezahlbar gedeckt werden kann.

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Angesichts der Vielzahl bisher ungelöster Probleme resümiert der Gesundheits- und Pflegewissenschaftler Michael Ewers von der Berliner Charité nüchtern: „Wir haben die Pflege nicht so sehr in den Blick genommen, wie wir es angesichts ihrer Bedeutung für unsere Gesellschaft hätten tun müssen.“

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