Pfarrer Kossen zur Fleischindustrie: „Das ist moderne Sklaverei”
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Fleischtheke im Supermarkt.
© Quelle: imago images/photothek
Herr Kossen, die Fleischindustrie ist im Zuge der Corona-Krise und wegen auffälliger Infektionszahlen erneut ins Gerede gekommen. Überrascht Sie das?
Nein, das war absehbar. Aufgrund verschiedener Faktoren gehören die Menschen, die in der Fleischindustrie prekär beschäftigt und untergebracht sind, zur Risikogruppe.
Sie engagieren sich seit Jahren gegen die Zustände dort. Kürzlich haben Sie allein vor der Coesfelder Firma „Westfleisch“ protestiert, in der es offenbar auch wegen der Unterbringung viele Corona-Infizierte gab. Warum tun Sie das? Und wie fing es an?
2011 habe ich eine Stelle angetreten in Vechta. Und die Landkreise Vechta, Oldenburg, Cloppenburg und Emsland bilden eine Region, in der sich die Fleischindustrie sehr verdichtet hat. Das ist zugleich meine Heimatregion. Als ich 2011 dorthin zurückkam, wusste ich um die Geschichte. Neu waren für mich die Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt und diese Art der Unterbringung. Man hatte die Stammbelegschaften in den 1990er-Jahren in großem Stil ersetzt durch Frauen und Männer aus Ost- und Südosteuropa. Und man hat diese Leute dann zunehmend in eine Situation gebracht, die ich als moderne Sklaverei bezeichnen würde. Ich habe dann gedacht, das, was ich tun kann, ist, Öffentlichkeit herzustellen über diese brutale Art von Ausbeutung und Abzocke.
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Pfarrer Peter Kossen
© Quelle: Katholische Kirche
Das heißt, das Problem liegt Ihrer Ansicht nach in den Strukturen und nicht in der Tatsache, dass viele Deutsche nach billigem Fleisch verlangen und sich nicht darum kümmern, wo es her kommt.
Das Problem hat sicher viele Ursachen. Man muss auch nochmal den Handel mit ins Spiel bringen und die großen deutschen Discounter-Ketten, die eine ganz schwierige Rolle im Unterbietungswettbewerb spielen. Es hat auch damit zu tun, dass in Deutschland im Schnitt deutlich weniger für Lebensmittel ausgegeben wird als in Frankreich oder Italien – also mit einer „Geiz ist geil“-Mentalität und einer Nicht-Wertschätzung von geleisteter Arbeit in der Landwirtschaft.
Aber?
Aber es hat eben auch damit zu, dass durch diese Art von Beschäftigung durch Werkverträge und Leiharbeit und Subunternehmer in Großschlachtereien eine Grauzone entstanden ist und man diese Grauzone von politischer Seite zugelassen hat. Man konnte Lohn- und Sozialdumping betreiben dadurch, dass man sozialversicherungspflichtig beschäftigte Stammbelegschaften ersetzt hat durch Werkvertrags- und Leiharbeiter. Dadurch hat man kriminellen und mafiösen Strukturen, die in der Arbeitnehmerüberlassung Züge von Menschenhandel haben, Tür und Tor geöffnet.
Nun will Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) Werkverträge und das Subunternehmertum in der Fleischindustrie einschränken. Nach seinem Vorschlag sollen das Schlachten der Tiere und die Verarbeitung von Fleisch nur noch von Beschäftigten des eigenen Betriebs zulässig sein. Ist das ein Ausweg? Und wie viele Arbeitnehmer würden unter diese Regel fallen?
Es wäre ein wichtiger Lösungsansatz. Wir haben heute die Situation, dass in vielen Großschlachtereien das Verhältnis von Leiharbeitern zu Stammbelegschaften bei 80 zu 20 liegt. Dieses Verhältnis muss mindestens umgekehrt werden. Es wird immer vorgeschoben, das habe mit Saison- und Belastungsspitzen zu tun. Das ist aber Unsinn. Man braucht keine 80 Prozent für Belastungsspitzen. Das ist reines Lohn- und Sozialdumping. Das Problem könnte man in den Griff bekommen, wenn man von Seiten des Gesetzgebers darauf hinwirkt, dass die Unternehmen in ihrem Kerngeschäft – dem Schlachten und Zerlegen – Mitarbeiter der Stammbelegschaft anstellen müssen. Dann käme auch ein Betriebsrat mit ins Spiel oder die Gewerkschaft möglicherweise, auch eine Berufsgenossenschaft.
Um wie viele Menschen geht es?
Viele der Arbeiter – wir sprechen in Nordwestdeutschland von 40.000, in ganz Deutschland noch von deutlich mehr – verdienen unter dem festen Satz, weil die Strukturen, die wir eigentlich zum Arbeitsschutz haben, dort nicht zum Tragen kommen, wenn Leute in großem Stil gar nicht Betriebsangehörige sind und die Verantwortlichkeiten auf Arbeitnehmerseite durch Subsubketten bis zur Unkenntlichkeit delegiert werden. Man könnte da wieder Licht reinbringen und es ordnen eben dadurch, dass man den allergrößten Teil der Arbeit durch eigene Leute erledigen lässt. Das wäre auf jeden Fall ein wichtiger Schritt.
Wie stark sind die Widerstände, auf die Sie da treffen?
Die Widerstände sind sehr stark, weil auf diese Art natürlich wahnsinnig viel Geld gemacht wird. Wie gesagt: Das hat Züge von Menschenhandel. Die Polizei sagt: Mit Menschenhandel kann man heute mehr Geld verdienen als mit Drogenhandel. Die Lobby der Fleischindustrie wird sich auch diesmal zur Wehr setzen. Sie hat ja bisher schon viel Wichtiges verhindert. Ich habe diesen Widerstand auch erlebt. Aber ich kann damit leben. Man muss jetzt nur aufpassen, dass man nicht darauf herein fällt, wenn die Konzerne Zwischenlösungen anbieten oder Selbstverpflichtungen. Ich glaube, die Gelegenheit haben die Konzerne lange genug gehabt. Jetzt muss der Staat tätig werden. Den Verantwortlichen in der Fleischindustrie traue ich da nichts Gutes zu.
Sie selbst sind Pfarrer in Lengerich im Münsterland, wo traditionell gern Schnitzel serviert wird, am liebsten mit Bratkartoffeln. Greifen Sie da auch zu? Oder lassen Sie andere essen?
Ich esse mitunter ganz gerne Fleisch. Aber ich esse weniger. Und ich merke, welche Qualitätsunterschiede es gibt. Wenn ich seltener Fleisch esse, dafür aber teureres und besseres Fleisch, dann verpasse und vermisse ich nichts – zumal wenn ich sicherstellen kann, dass Leute ihren Lohn bekommen für die schwere Arbeit, die sie tun.