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Replik auf Appell in der „Zeit“

„Naiver Pazifismus“: Osteuropaexperten kritisieren deutsche Intellektuelle für Waffenstillstandsaufruf

Ein ukrainischer Soldat vor einem völlig zerstörten Haus in der  Stadt Mykolajiw. Hier wurden Hotels, Häuser und Universitäten von russischen Raketen angegriffen und zerstört. Sie ist eine der am meisten angegriffenen Städte des Landes.

Ein ukrainischer Soldat vor einem völlig zerstörten Haus in der Stadt Mykolajiw. Hier wurden Hotels, Häuser und Universitäten von russischen Raketen angegriffen und zerstört. Sie ist eine der am meisten angegriffenen Städte des Landes.

Berlin. Unter der Überschrift „Schwere Waffen jetzt!“ haben fast 100 Osteuropaexpertinnen und Osteuropaexperten eine Replik zum Aufruf „Waffenstillstand jetzt!“ von deutschen Intellektuellen verfasst, der Ende Juni in der Wochenzeitung „Die Zeit“ erschienen war.

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In dem Appell forderten Prominente wie der Philosoph Richard David Precht, die Schriftstellerin Juli Zeh oder der Publizist Jakob Augstein einen „konzertierten Vorstoß“ für Verhandlungen zur Beendigung der russischen Angriffskrieges in der Ukraine.

Europa stehe vor der Aufgabe, den Frieden auf dem Kontinent wiederherzustellen und ihn langfristig zu sichern, heißt es in dem Aufruf. Dazu bedürfe es einer Strategie zur raschen Beendigung des Krieges. Je länger die derzeitigen westlichen Maßnahmen andauerten, desto unklarer werde, „welches Kriegsziel mit ihnen verbunden ist“.

14.07.2022, Niedersachsen, Unterlüß: Ein "Infanterist der Zukunft" steht neben einem Kampfpanzer Panther KF51 des Rüstungskonzerns Rheinmetall bei einer Führung durch das Rheinmetall-Werk Unterlüß anlässlich der Sommerreise des niedersächischen Wirtschaftsministers. Der neu entwickelte Panther gehört zu den modernsten Waffensystemen der Welt. Foto: Julian Stratenschulte/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

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Experten werfen den Prominenten mangelnde Sachkenntnis vor

Die Prominenten stellten infrage, ob Waffenlieferungen der richtige Weg seien. Eine weitere Fortsetzung des Krieges würde Tausende weitere Kriegsopfer bedeuten, hieß es. Auch bestehe die Gefahr einer atomaren Eskalation. Allerdings hieß es auch: „Verhandlungen bedeuten nicht, wie manchmal angenommen wird, der Ukraine eine Kapitulation zu diktieren. Einen Diktatfrieden Putins darf es nicht geben.“

In dem Gegenaufruf „Schwere Waffen jetzt!“, der dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) vorliegt, gehen Osteuropaexpertinnen und -experten hart mit den über 20 Unterzeichnenden des Waffenstillstandsappells ins Gericht und stellen deren Kompetenz infrage. Keiner der Unterzeichnenden sei bislang „durch tiefergehende Beschäftigung mit den russisch-ukrainischen Beziehungen aufgefallen“, heißt es in der Replik.

Da es um einen Krieg zwischen der Ukraine und Russland gehe, verwundere „die vollständige Abwesenheit von Forscherinnen und Forschern zur ukrainischen und/oder russischen Politik, Armee, Geschichte und Kultur“, heißt es weiter im Gegenaufruf, der unter anderem von den Historikern Andreas Kappeler (Wien) und Timothy D. Snyder (New Haven), den deutschen Grünen-Politikerinnen Rebecca Harms und Marieluise Beck sowie dem ehemaligen deutschen Botschafter in Moskau, Ernst-Jörg von Studnitz, unterzeichnet wurde.

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Kiew brauche auch zukünftig Waffen – aus strategischen Gründen

Sie kritisieren, eine „Restriktion militärtechnischer Hilfe für die Ukraine“ und die damit verbundene Hoffnung auf „produktive Verhandlungen mit Russland“ als falschen Ansatz zur „Einhegung des russischen Imperialismus“. Es sei „beunruhigend“, dass die „massenhafte Enteignung, Deportation, Verstümmelung und Ermordung der Zivilbevölkerung in den von Moskau 2022 neuen besetzten Gebieten der Ukraine“ für die Unterzeichner des Waffenstillstandsappells „offenbar sekundär“ ist.

„Verhandlungen und ein Waffenstillstand sind prinzipiell natürlich notwendig“, sagte der Initiator des Gegenaufrufs „Schwere Waffen jetzt!“, der Osteuropaexperte Andreas Umland, dem RND. Aber die Ukraine brauche heute nicht nur aus taktischen Gründen so schnell und so viel wie möglich schwere Waffen.

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Sie werde für lange Zeit auf sich allein gestellt bleiben und nicht in Militärbündnisse eingebunden werden. Kiew benötige daher solche Waffen auch aus zukunftsstrategischen Gründen, sagte Umland, der für das Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien forscht.

Deutschland könne und müsse mehr tun, heißt es in dem Brief

Die vollmundigen westlichen Ankündigungen künftiger Sicherheitsgarantien würden zu Recht weder die Ukrainer noch die Russen ernst nehmen. Den Glauben an eine auch nur mittelfristige Gültigkeit russischer internationaler Versicherungen dürften inzwischen selbst hartgesottene Putin-Versteher verloren haben, so Umland.

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Der Leipziger Osteuropaexperte und Mitunterzeichner des Gegenaufrufs, Prof. Stefan Troebst, hält weitere Waffenlieferungen an die Ukraine zur Selbstverteidigung und zur Abwehr der russischen Aggression für „völlig richtig“ – auch als Voraussetzung, „um eines Tages einen Waffenstillstand abschließen zu können“, der nicht von Moskau diktiert wird. Für Russland müsse klar sein, dass die Nichteinhaltung eines solchen Waffenstillstands dann mit einer dauerhaften Pattsituation verbunden sei.

Die Todesopfer und die Zerstörungen wachsen jeden Tag. Ob die Ukraine dieser Materialschlacht standhalten und die russischen Truppen zurückdrängen kann, hängt entscheidend von der Lieferung schwerer Waffen durch den Westen ab.

Ralf Fücks,

Zentrum Liberale Moderne

Mitunterzeichner Ralf Fücks, Gründer und Geschäftsführer des Thinktanks Zentrum Liberale Moderne, sagte dem RND, Russland versuche die Ukraine mit einem Feuerhagel von Artillerie, Raketen und Luftangriffen zu zermürben.

„Die Todesopfer und die Zerstörungen wachsen jeden Tag. Ob die Ukraine dieser Materialschlacht standhalten und die russischen Truppen zurückdrängen kann, hängt entscheidend von der Lieferung schwerer Waffen durch den Westen ab“, betonte Fücks. Deutschland könne und müsse mehr tun, um das Blatt in der Ukraine zu wenden.

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„Es geht auch um unsere Freiheit“

Jörg Forbig von der Stiftung German Marshall Fund of the United States wollte mit seiner Unterschrift unter „Schwere Waffen jetzt!“ einer Gegenstimme zu einer Form von „naivem Pazifismus“ Gehör verschaffen. „Ich glaube, die Unterzeichner des Waffenstillstandsappells sind von der Lebenswirklichkeit in der Kriegsregion weit entfernt“, sagte Forbig, der sich seit 30 Jahren mit Osteuropa beschäftigt.

Mitunterzeichnerin Anke Giesen, Vorstandsmitglied im deutschen Ableger der in Russland gegründeten und inzwischen verbotenen Menschenrechtsorganisation Memorial, sagte dem RND: „Es ist unsere Pflicht, der Ukraine im Kampf um ihre Freiheit zu helfen. Letztlich geht es dabei auch um unsere Freiheit.“

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Die Osteuropaexpertinnen und -experten kritisieren, mit dem Appell „Waffenstillstand jetzt!“ wiederhole sich das Muster des offenen Briefes an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) von Ende April, mit dem sich „28 mit Osteuropa wenig vertraute Intellektuelle, Künstlerinnen und Künstler“ in der Zeitschrift Emma zu Wort gemeldet hatten. Darin wurde Scholz aufgefordert, nicht noch mehr schwere Waffen an die Ukraine zu liefern. Damals initiierte die Feministin Alice Schwarzer den Brief, der eine Kontroverse um deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine auslöste.

In einem weiteren offenen Brief an Scholz reagieren dann 57 Intellektuelle, Wissenschaftler und Künstler um den ehemaligen Grünen-Politiker Ralf Fücks auf den „Emma“-Appell und sprachen sich ausdrücklich für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine aus.

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