Ortskräfte in Deutschland: Was passiert nach der Flucht aus Afghanistan?
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/57KUAKP6CRAGJHTS55D4N34KEE.jpeg)
Was passiert mit den Ortskräften, die es in ein Evakuierungsflugzeug geschafft haben?
© Quelle: -/Bundeswehr/dpa
Hannover/Kabul. Nur noch wenige Tage bleiben den deutschen Truppen in Afghanistan, um Schutzsuchende aus dem Land zu evakuieren. Neben deutschen Staatsbürgern sollen auch möglichst viele Ortskräfte nach Deutschland gebracht werden. Dazu zählen Tausende Afghanen, die seit 2002 zum Beispiel als Dolmetscher, Kraftfahrer oder politische Berater für Deutschland gearbeitet haben.
Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan sind sie wegen ihrer Arbeit großen Gefahren ausgesetzt – auch ihre Familien. Die Taliban sehen sie als Verräter an. Aus diesem Grund laufen die Evakuierungsmissionen derzeit in Afghanistan. Doch Deutschland macht das nicht nur aus Nächstenliebe: Es gibt eine rechtliche und politische Fürsorgepflicht für eben diese Menschen.
Ortskräfte werden schon seit 2013 evakuiert
Grundsätzlich gibt es für zu evakuierende Ortskräfte ein Verfahren, um sie in Deutschland aufzunehmen – das Ortskräfteverfahren. Im Jahr 2013 ist dieses Verfahren in Kraft getreten. Knapp 2000 Menschen sind bis zum Abzug der Truppen aus Afghanistan bis Ende Juni in Deutschland angekommen, erzählt Karl Kopp von Pro Asyl. „Diese Menschen waren komplett auf sich gestellt. Es gibt Bilder vom Frankfurter Flughafen, auf denen vollkommen erschöpfte Jugendliche zu sehen sind. Sie mussten alles selbst organisieren“, sagt Kopp.
+++Alle Entwicklungen zu Afghanistan im Liveblog+++
Das habe sich nun geändert – auch, weil die Lage eine völlig andere ist und das aufwändige Ortskräfteverfahren sich als nicht praktikabel erwiesen hat. In der Regierungserklärung am Mittwoch äußerte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) – wie auch viele andere Politikerinnen und Politiker vor ihr -, dass Deutschland unterschätzt habe, „wie atemberaubend schnell die afghanischen Kräfte ihren Widerstand gegen die Taliban aufgeben“.
Ortskräfte aus Afghanistan benötigen kein Visum mehr
Wegen der chaotischen Umstände und der knappen Evakuierungszeit benötigen Ortskräfte nun kein Visum mehr. Sie müssen lediglich ein Ausweisdokument am Flughafen Kabul vorlegen, doch die Situation am Flughafen spitzt sich immer weiter zu, viele Menschen kommen nicht mehr dorthin.
Aus dem Auswärtigen Amt heißt es auf RND-Anfrage: „Die Bundesregierung sucht mit Hochdruck nach Lösungen, um den Zugang von Schutzbefohlenen an den Flughafen in Kabul zu erleichtern, derzeit erfolgt aufgrund der damit verbundenen Gefahr jedoch keine generelle Aufforderung für afghanische Staatsangehörige, sich zum Flughafen zu begeben.“
Gefährderprüfung für alle Flüchtlinge
Bis Mittwoch (25.08.2021) sind nach Angaben der Bundesregierung rund 4600 Schutzsuchende aus Afghanistan ausgeflogen worden, darunter rund 3700 afghanische Staatsbürger. Zunächst werden sie nach Taschkent gebracht. Von dort aus geht die Reise weiter nach Deutschland. Außerdem gibt es eine Gefährderprüfung, die laut Innenminister Horst Seehofer (CSU) nur wenige Sekunden dauern soll. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums kann diese Sicherheitsprüfung bei Bedarf auch erst in Deutschland durchgeführt werden.
In Deutschland angekommen geht es für die Schutzsuchenden nach einem Corona-Test zur Registrierung durch Bundespolizei und Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). In der Regel besteht für die Gestattung der Einreise und des Aufenthalts ein „dringender humanitärer Grund“, erklärt das Innenministerium mit Bezug auf Paragraf 22 des Aufenthaltsgesetzes. Die ankommenden Personen werden dann zunächst in Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht.
„Die Betroffenen erhalten bei der Einreise durch die Bundespolizei ein auf einige Wochen befristetes Aufnahmevisum und im Anschluss durch die zuständige Ausländerbehörde eine Aufenthaltserlaubnis“, heißt es aus dem Innenministerium weiter. Diese Aufenthaltserlaubnis sei zunächst auf drei Jahre befristet, könne aber verlängert werden. Voraussetzung dafür sei, dass die Gründe, aus denen der Aufenthalt gestattet wurde, weiterhin gegeben sind.
Zunächst bestehen dann Ansprüche auf Sozialleistungen nach dem Sozialgesetzbuch, also die gleichen Ansprüche, die auch für deutsche Staatsangehörige gelten. Anträge müssen beim zuständigen Jobcenter gestellt werden. Diese Ansprüche gelten solange, bis der Lebensunterhalt eigenständig gesichert werden kann. „Die Aufenthaltserlaubnis berechtigt zur Ausübung einer selbständigen sowie unselbständigen Erwerbstätigkeit“, sagt Karl Kopp von Pro Asyl. „Auch die Aufnahme einer Ausbildung oder eines Studiums ist möglich.“
Verteilung der Ortshelfer über Königsteiner Schlüssel
Bevor Betroffene allerdings über die Arbeit nachdenken können, benötigen sie einen Wohnort. Sie können sich nicht selbst aussuchen, wo sie wohnen möchten. Die Verteilung erfolgt über den sogenannten Königsteiner Schlüssel, abhängig vom Steueraufkommen und der Bevölkerungszahl der Bundesländer. Darüber werden sie schließlich auf die 16 Bundesländer verteilt.
Dort müssen die Ortskräfte drei Jahre lang bleiben. Kopp erklärt aber, dass es Ausnahmen gibt: „Die Verpflichtung entfällt mit Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit, die mindestens 15 Stunden pro Woche ausgeübt wird und mit welcher ein Nettoeinkommen in Höhe von mindestens 785 Euro erzielt wird.“ Außerdem dürfen die Menschen umziehen, wenn sie eine Berufsausbildung oder ein Studium aufnehmen.
Die Menschen haben ihr Leben in ihrer Heimat zurückgelassen. Um sie in Deutschland besser zu integrieren, können sie im Rahmen verfügbarer Plätze an Integrationskursen teilnehmen. Ein gesetzlicher Anspruch für die Teilnahme besteht jedoch für Menschen mit dieser Aufenthaltserlaubnis nicht.
Doch eins steht fest: Die Menschen sind erst einmal in Sicherheit und müssen sich nicht davor fürchten, von den Taliban aufgrund ihrer Kooperation mit Deutschland verfolgt zu werden. Jedoch warten noch Tausende Menschen in Afghanistan auf ihre Evakuierung, doch die Zeit läuft ab. Spätestens am 31. August soll die Evakuierungsmission enden, wenn die USA ihre Truppen endgültig abzieht.
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Twitter, Inc., der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzhinweisen.
Außenminister Heiko Maas (SPD) kündigte zwar an, „zu schützenden Personen über den laufenden Militäreinsatz hinaus“ die Ausreise zu ermöglichen. Erst an diesem Donnerstag wurde bekanntgegeben, dass bis Freitag alle Soldaten weitgehend abgezogen sein sollen, die letzten vier Evakuierungsflüge sind für Donnerstag geplant. Was nach dem Abzug der Truppen mit den in Afghanistan zurückgebliebenen Ortskräften tatsächlich geschieht, ist unklar.