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Defizite bei der Bundeswehr

Militärhistoriker: „Wir müssen raus aus unserem strukturellen Pazifismus“

Geheimdienstexperte Sönke Neitzel von der Universität Potsdam

Der Militärhistoriker Sönke Neitzel von der Universität Potsdam.

Berlin. Herr Neitzel, Sie sind Militärhistoriker. Wie nehmen Sie aus dieser Perspektive wahr, was Wladimir Putin in der Ukraine tut?

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Man muss ehrlicherweise sagen, dass niemand den Angriff Russlands für wahrscheinlich gehalten hat. Ich auch nicht. Alle glaubten, der Truppenaufmarsch sei eine Drohkulisse, um auf dem Verhandlungsweg Erfolge zu erzielen. Dass Wladimir Putin, wie sich jetzt zeigt, offenbar von vornherein entschlossen war, diesen Weg zu gehen, überrascht dann doch.

Waren wir alle naiv, wie Friedrich Merz gesagt hat?

Ja, das würde ich absolut so sehen. Dass in Europa ein Land ein anderes überfällt, war außerhalb unserer Vorstellungskraft. Das müssen wir uns alle ankreiden.

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Aber man hat doch einiges über Putin gewusst.

Man hat Putins Geschichte als KGB-Agent gekannt – und sein Denken und Handeln mit Gewalt, in der Ostukraine oder in Syrien. Aber wir dachten immer, dass Putin nicht wahnsinnig ist. Und er hat 2014 eben nicht das Baltikum besetzt, obwohl er es militärisch hätte tun können, weil die Nato mit heruntergelassenen Hosen dagestanden hätte. Jetzt sind die Folgen unabsehbar. Putin wird zwar sicher in irgendeiner Form von China unterstützt werden. Aber er brennt ansonsten die Brücken ab. Selbst seine größten Unterstützer in der SPD, der AfD oder der Linken können angesichts dieser Situation nicht mehr für Putin sprechen.

Und nun?

Die Frage ist jetzt: An welchem Punkt hört Putin auf, wenn er sogar zu diesem Schritt in der Lage war? Letztlich hat Putin ja sogar indirekt mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Das lässt Schlimmes erahnen, was auch die baltischen Staaten anbelangt. Die Nato sieht zwar zurzeit keine Bedrohung ihres Territoriums, aber wer weiß.

Deshalb müssen wir einen Schritt weiter gehen und fragen: Wie verteidigungsfähig sind wir eigentlich? Und haben wir seit 2014 eigentlich genug getan, um uns verteidigen zu können? Da sehen wir, dass die Bundeswehr immer und immer wieder gewarnt hat, wir müssten die Verteidigungsfähigkeit und die Strukturen verbessern.

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Wir müssen raus aus unserem strukturellen Pazifismus. Das ist bisher nicht gelungen. Die Fähigkeit, den osteuropäischen Staaten militärische Hilfe zu leisten, ist extrem begrenzt. Da sind wir alle auf dem Boden der Realpolitik aufgeschlagen.

Der Inspekteur des Heeres hat heute gesagt, die Bundeswehr sei blank.

Da hat er recht. Davor warne ich auch seit Langem. Ich habe immer gesagt, das wird sich erst ändern, wenn es zu spät ist. Man bekommt keine leistungsfähige Armee auf Knopfdruck.

Woran fehlt es?

Die Bundeswehr ist nicht in der Lage, ein längeres hochintensives Gefecht zu führen – willens wohl, aber nicht fähig. Die Bundeswehr ist nach wie vor dysfunktional organisiert. Es gibt keine klaren Strukturen und Verantwortlichkeiten, immer noch nicht. Es gibt zu wenig Munition und sonstiges Material. Die Deutschen haben keine richtige Flugabwehr, keine einsatzfähigen Kampfhubschrauber und zu wenig Artillerie. Man könnte die Brigaden des Heeres gar nicht guten Gewissens in den Kampf schicken.

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Wie lange würde es dauern, diese Fähigkeit herzustellen?

Man könnte bestimmte Waffensysteme bei den Amerikanern kaufen oder auf dem Weltmarkt. Dann wären sie auch schnell verfügbar. So gesehen könnte man die Kampffähigkeit der Bundeswehr innerhalb von zwei bis drei Jahren massiv erhöhen – wenn man wollte. Und die Soldaten der Bundeswehr wollen ja.

Es gibt keinen Mangel an Erkenntnis, sondern an Umsetzung. Allerdings bleiben Strukturreformen auch dann notwendig, um die Bundeswehr effizienter zu machen. Die Bundeswehr ist ein großer Verwaltungsmoloch, der nicht auf Effizienz in einem Krieg ausgerichtet ist. Wir haben den Verteidigungsetat zwar zuletzt sehr erhöht. Aber was wir hinten rausbekommen haben, war sehr bescheiden.

Warum ist das so?

Es gibt keine klaren Verantwortlichkeiten. Der Inspekteur des Heeres ist zum Beispiel nicht für Personal und Material verantwortlich, sondern letztlich nur für die Ausbildung. Man muss da jetzt eine Organisationsstruktur finden mit ganz klaren Zuständigkeiten – und keine Diffusion zwischen zehn Abteilungsleitern im Verteidigungsministerium, wo alle immer irgendwie beteiligt sind.

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Auch das latente Misstrauen der Politik gegenüber dem Militär sollten wir ad acta legen. Die Struktur des Verteidigungsministeriums kommt ja ein Stück weit aus den 1950er-Jahren und der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges. Daher hieß es, man müsse das Militär kontrollieren und einkapseln, weil es eine potenzielle Gefahr für die Demokratie darstelle. Meines Erachtens hat die Bundeswehr wirklich bewiesen, dass sie keine Gefahr für die Demokratie ist.

Eine Bitte hätte ich aber bei den nötigen Reformen: Vorher keine große Kommission unter Führung eines ehemaligen Politikers. Die Erkenntnisse sind da. Fragt die Bundeswehr, und dann entscheidet!

Ich kann mich an keinen Verteidigungsminister der letzten 30 Jahre erinnern, der keine Reform gemacht hätte.

Die haben aber unter anderen Voraussetzungen stattgefunden. Bis 2014 ging es um die Anpassung an Auslandseinsätze. Die Bündnisverteidigung ist faktisch 2001 aufgegeben worden. 2014 und 2015 schlug die Bundeswehr deshalb auf dem Tiefpunkt ihrer Leistungsfähigkeit auf, was Verteidigung betrifft. Dass aber seitdem so wenig passiert ist, dass immer noch massive Strukturdefizite und Probleme bei der Rüstung bestehen und immer noch eine Verantwortungsdiffusion herrscht – das ist unverzeihlich. Das muss man der CDU genauso zuschreiben wie der SPD. Das ist schlicht verdaddelt worden.

Wie geht es in der Ukraine weiter?

Das können wir jetzt nicht absehen. Aber je länger der Krieg dauert, desto schlechter ist es für Putin. Denn desto mehr hat der Westen die Möglichkeit, der Ukraine zu helfen und Waffen zu liefern. Aber wir wissen am heutigen Tag natürlich nicht, wie lange der Konflikt dauern wird. Das ist jetzt „der Nebel des Krieges“, von dem Clausewitz gesprochen hat; das ist nicht vorherzusagen.

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+++ Alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg gegen die Ukraine im Liveblog +++

Könnte das die Gelegenheit sein, bei der sich China nach Hongkong nun auch Taiwan einverleibt?

Für China ist das die beste Situation überhaupt. Wenn die Russen scheitern, sind sie nicht involviert. Wenn die Russen Erfolg haben, können die Chinesen das ausnutzen. Bei einer langen Konfrontation wäre das ebenfalls gut für China. Denn es würde den Westen schwächen. Ich glaube, dass es letztlich einen Pakt der beiden Diktatoren gibt. Die Chinesen werden die Russen ökonomisch unterstützen und auch im UN-Sicherheitsrat. Es wird keine UN-Resolutionen gegen Russland geben können. Ich schätze China aber nicht so ein, dass es im Jahr 2022 schon bereit ist, sich Taiwan militärisch einzuverleiben.

Warum sollten die Chinesen es nicht tun?

Ich glaube, dass die Chinesen sehr viel mehr auf Strategie setzen und sehr viel weniger auf Emotionen. Putin ist in Sachen Ukraine ja sehr emotional. China weiß, dass es die Zeit auf seiner Seite hat und Taiwan ihm wie eine reife Frucht in den Schoß fallen wird.

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