Merkel und der russische Patient
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Zwei Langzeitpolitiker unter sich: Angela Merkel, Kanzlerin seit 2005, und Wladimir Putin, Präsident seit dem Jahr 2000, am Freitagnachmittag im Kreml.
© Quelle: dpa
Keinen auswärtigen Staatschef hat Angela Merkel in ihren Kanzlerjahren seit dem Jahr 2005 so oft getroffen wie Wladimir Putin.
Der Grund liegt nicht in besonderer Zuneigung, sondern in der besonders langen Amtszeit von beiden. Russlands Präsident, sogar schon im Jahr 2000 gestartet, hielt in diesem Punkt als einziger weltweit wichtiger Staatenlenker bis heute mit der deutschen Langzeitkanzlerin mit.
Mit keinem aber hatte Merkel zugleich so große Mühe.
In kleinem Kreis redete sie über Putin mitunter wie eine Psychiaterin über ihren Patienten. Oft überlege sie: Wie kommt man an ihn heran? Wie bringt man ihn raus aus seinen negativen gedanklichen Spiralen? Zusehends schraubte er sich in einen ungesunden Neonationalismus hinein, mit immer neuen Aggressionen nach außen und immer neuen Repressionen nach innen.
„Er lebt in seiner eigenen Welt“
Ein Maximum an Entfremdung zwischen Merkel und Putin war im Jahr 2014 erreicht. Damals verleibte sich Russland die Krim ein. Aus Moskau wurde seinerzeit berichtet, dass Putin sich wie noch nie in Werke bestimmter russischer Philosophen vertiefe, dass er Menschen mit ernster Miene und Tieren lächelnd begegne – und dass er, wie das US-Magazin „Newsweek“ notierte, morgens „erst mal zwei Stunden schwimmen geht“. Seufzend sagte Merkel damals über Putin: „Er lebt in seiner eigenen Welt.“
Doch Merkel hat nie aufgegeben, an ihm und mit ihm zu arbeiten. Dazu ist Russland zu wichtig, und dazu ist Deutschland den Russen zu nah.
„Lieber Wladimir“, hob Merkel am Freitag vor der Presse im Kreml mit Blick auf Putin an – als sei sie zu Gast bei Freunden.
Putin seinerseits lobte die „konstruktiven Gespräche“, die man geführt habe, „über die gesamten 16 Jahre“. Fast lag so etwas wie Rührung in der Luft.
Merkels Unermüdlichkeit, noch in den letzten Kurven vor dem Ende ihrer Amtszeit, erstaunt Freund und Feind.
Journalisten wollten am Freitag in Moskau von ihr wissen, ob das einst in der Normandie begonnene Vierer-Format zu Verhandlungen über den Ukraine-Konflikt (Russland, Deutschland. Frankreich, Ukraine) nicht längst gescheitert sei. Stoisch antwortete Merkel: „Wir sollten damit pfleglich umgehen, solange wir nichts Besseres haben.“
Merkels Magma bleibt in Bewegung
Sich nicht beirren lassen, aus dem Unvollkommenen das Beste machen: Mit dieser Haltung ging Merkel den an schnellen Durchbrüchen interessierten Amerikanern oft auf die Nerven. Bei Putin indessen sammelte die Deutsche damit Punkte: Sie hält Zweideutigkeiten aus, kann mit Schwebezuständen leben, verliert nicht die Nerven.
Merkel sah ihre diplomatischen Taktiken stets als Spiel auf Zeit. Solange geredet werde, sinnierte sie mal während einer Flugreise über den Wolken im Beisein von Journalisten, halte man zumindest „das Magma in Bewegung – das nie erstarren darf“. Danach blickte sie eine halbe Minute wortlos aus dem Flugzeugfenster.
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Die Diplomatie muss stets weitergehen, wie auch immer: Bundeskanzlerin Angela Merkel steigt bei einem USA-Besuch aus dem Airbus „Konrad Adenauer“.
© Quelle: Kay Nietfeld/dpa
Nach dieser Logik ist das Erreichen eines konkreten Ziels die zweite Frage. Priorität hat, dass die Diplomatie als solche stets weitergeht – und dass man das Feld nicht den Militärs überlässt.
Berlin will Druck auf Lukaschenko
Wer sich auf solches Denken einlässt, kann das jüngste Treffen in Moskau durchaus als Erfolg deuten und sogar gleich reihenweise grüne Häkchen setzen – wohlgemerkt keinen im Sinne einer positiven Wende, aber alle im Sinne eines vom Ende her offen bleibenden diplomatischen Weiter-so.
– Ukraine? Merkel fliegt am Sonntag selbst nach Kiew. Dass Putin ihr zumindest irgendein geheimes Zugeständnis mit auf den Weg gegeben hat, kann niemand ausschließen. Man hat sich schließlich unter vier Augen getroffen.
– Afghanistan? Putin verzichtete am Freitag auf der Moskauer Bühne darauf, den Westen wegen des Chaos in Kabul zu verhöhnen. Er stellte stattdessen eine Mitwirkung bei internationalen Anstrengungen in Aussicht, trotz des Machtwechsels auf Stabilität hinzuwirken. Das war der Sound, den Merkel wollte.
– Syrien? Dass Russland mit dem Wiederaufbau ökonomisch überfordert wäre, liegt auf der Hand. Merkel ist hier gesprächsbereit, unausgesprochen verhandelt sie bereits für die ganze EU. Doch sie macht ein Entgegenkommen Moskaus an anderen Stellen zur Bedingung. Unter anderem soll Putin endlich seine Unterstützung für den unsäglichen Diktator Alexander Lukaschenko in Belarus zurückfahren.
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„Solidarität mit Belarus“: Protestmarsch gegen Diktator Lukaschenko Anfang August in Danzig.
© Quelle: imago images/NurPhoto
Ideal wäre es, über alle Themen gleichzeitig zu reden und die Dinge in produktive Schwingungen zu versetzen. Merkel hat darin Erfahrung, sie kennt das aus Brüssel. Möglich sind dann „package deals“, die sachlich eigentlich unverbundene Dinge miteinander verknüpfen. So etwas auch mit Russland hinzubekommen wäre hilfreich für die ganze Welt.
Die Einsamkeit des Langzeitpolitikers
Schon darüber nur zu reden ist besser als gar nichts. Immerhin: Die Langzeitpolitiker Putin und Merkel tun es. Und sie spüren im Verhältnis zu den heillos oszillierenden USA ihre zumindest relativ gewachsene weltpolitische Macht und Verantwortung.
Trotzig setzten beide soeben Nord Stream 2 durch, im Grunde gegen den Rest der Welt. Mit neuem Selbstbewusstsein telefonieren beide in diesen Tagen mit wichtigen Spielern in allen Problemzonen, etwa mit dem alten Präsidenten der Türkei und dem neuen Präsidenten des Irans.
Wer die gesamte Szenerie rund um Russland aus Putins Perspektive betrachtet, kann das besondere Verhältnis zu Merkel besser verstehen. Oft redet er mit ihr über die anderen. In der Nach-Merkel-Zeit wird sich der russische Patient wieder ein Stück weit einsamer vorkommen als bisher. Eine gute Nachricht für die Welt ist das nicht.