Merkel, die Ministerpräsidenten und die „Corona-November-Therapie“

Berlin: Bundeskanzlerin Angela Merkel verlässt eine Pressekonferenz im Kanzleramt nach einem Treffen mit den Ministerpräsidenten der Länder zum weiteren Vorgehen in der Corona-Pandemie.

Berlin: Bundeskanzlerin Angela Merkel verlässt eine Pressekonferenz im Kanzleramt nach einem Treffen mit den Ministerpräsidenten der Länder zum weiteren Vorgehen in der Corona-Pandemie.

Berlin. Die drei, die da am frühen Abend im Kanzleramt vor die Presse treten, haben keine frohe Botschaft. „Es ist heute ein schwerer Tag“, sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). „Es ist eine bittere Pille“, pflichtet der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder bei.

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„Es ist mir heute sehr schwergefallen, diesen Beschluss zu fassen“, bekennt Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD). Er sieht wirklich sehr unglücklich aus in diesem Moment.

Die Corona-Infektionszahlen sind massiv angestiegen. Die Stimmung steht auf Alarm. Merkel hat die Ministerpräsidenten daher zwei Tage früher als geplant zusammengetrommelt. „Wir sind in einer sehr ernsten Lage“, so beginnt sie ihr Statement.

Merkels Begründung

Und dann listet sie auf: Die Zahlen der Neuinfektionen seien doppelt so hoch wie vor einer Woche, die Zahl der Intensivpatienten habe sich binnen zehn Tagen verdoppelt, die der künstlich Beatmeten innerhalb von neun Tagen. Wenn die Entwicklung sich so fortsetze, sagt Merkel, „kommen wir binnen Wochen an die Grenze der Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitssystems“.

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Mit den derzeitigen Zahlen sei es den Gesundheitsämtern nicht mehr möglich, Kontakte von Infizierten nachzuverfolgen – und das sei nun mal entscheidend, um die Pandemie in den Griff zu bekommen.

Es gehe darum, „eine akute Gesundheitsnotlage zu vermeiden“.

Harte und belastende Maßnahmen habe man deswegen beschlossen, für einen ganzen Monat, beginnend vom 2. November, dem nächsten Montag. Merkel hat den Beschluss auf Papier mitgebracht und zählt auf:

Kontaktbeschränkungen: Treffen in der Öffentlichkeit sind nur mit Angehörigen des eigenen und eines weiteren Hausstandes gestattet. Maximal sind zehn Personen erlaubt. Die Ordnungsbehörden sollen Verstöße streng mit Bußgeldern ahnden. Feiern mit mehr Personen in privaten Räumen können zwar wegen der Unverletzbarkeit der Wohnung nicht verboten werden. Sie werden in dem Beschlusspapier aber als inakzeptabel bezeichnet. Angekündigt werden deshalb verstärkte Kontrollen.

Reisen: Hotelübernachtungen für touristische Zwecke sind untersagt. Bund und Länder appellieren an die Bürger, auf Reisen und Ausflüge generell zu verzichten.

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Gastronomie: Alle Restaurants sowie Bars, Clubs, Diskotheken, Kneipen und ähnliche Einrichtungen werden geschlossen. Davon ausgenommen sind Kantinen, Essenslieferungen und der Imbiss auf die Hand.

Kultur und Freizeit: Theater, Opern, Konzerthäuser, andere Kultureinrichtungen sowie Freizeitparks, Spielhallen, Spielbanken und Wettannahmestellen werden dichtgemacht. Messen mit Unterhaltungscharakter sind untersagt. Bordelle müssen schließen. Gottesdienste bleiben hingegen weiter erlaubt.

Sport: Alle öffentlichen und privaten Sportanlagen, Schwimm- und Spaßbäder, Saunen, Fitnessstudios und ähnliche Einrichtungen müssen schließen. Der Freizeit- und Amateursportbetrieb wird ebenfalls untersagt. Die Fußball-Bundesliga kann zwar weiter laufen, aber nur mit Geisterspielen ohne Zuschauer. Alleine durch den Park joggen darf man weiter.

Dienstleistungen: Kosmetikstudios, Massagepraxen oder Tattoostudios sind für vier Wochen zu. Medizinisch notwendige Behandlungen, zum Beispiel Physio-, Ergo- und Logotherapien sowie Podologie/Fußpflege, bleiben weiter möglich. Friseure dürfen unter Einhaltung der bestehenden Hygieneauflagen ebenfalls weiterhin Kunden bedienen.

Bund und Länder einigen sich auch auf die Bereiche, die offen bleiben sollen. Es komme in manchen Bereichen zu harten Eingriffen, um zu ermöglichen, andere Bereiche offen zu halten, sagt Müller.

Schulen und Kitas: Sie bleiben geöffnet. Es gebe einen Bildungsauftrag, sagt Müller. Außerdem habe es „dramatische soziale Folgen, wenn Kinder nicht in die Schule gehen können“. Gewalt gegen Frauen und Kinder habe während der Schließungen im Frühjahr dramatisch zugenommen.

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Einzel- und Großhandel: Supermärkte und andere Läden dürfen weiter verkaufen. Maximal ein Kunde pro zehn Quadratmeter Verkaufsfläche ist hier zugelassen.

Unternehmen: Industrie und Handwerk sollen normal weiterarbeiten, sind aber aufgerufen, wo möglich das Arbeiten von zu Hause zu ermöglichen.

Senioren- und Pflegeheime: Besondere Schutzmaßnahmen für ältere Menschen und chronisch Kranke sind nicht vorgesehen, Schließungen von Heimen werden nicht explizit empfohlen. Es wird aber bekräftigt, dass in Pflegeheimen künftig verstärkt Schnelltests eingesetzt werden sollen. Die Kosten für regelmäßige Tests von Bewohnern, Personal und Besuchern werden von der Krankenversicherung übernommen. Krankenhäuser sollen nach dem Beschluss weitere finanzielle Hilfen bekommen, damit ausreichend Betten für Corona-Fälle frei gehalten werden.

Nach dem 140-Milliarden-Euro-Hilfsprogramm vom Sommer sagt die Bundesregierung Unternehmen weitere Unterstützungen zu. Bis zu 75 Prozent der ausgefallenen Umsätze will der Bund pauschal erstatten, wenn ein Unternehmen oder eine Einrichtung schließen muss. Hilfen wie das Kurzarbeitergeld werden davon abgezogen. Maßstab ist der Umsatz aus dem November 2019. Außerdem wird der KfW-Schnellkredit für Unternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten geöffnet und angepasst. Auch Soloselbstständige bekommen mehr Hilfen.

Während Kanzlerin und Länderchefs tagen, zieht draußen ein Trauerzug mit Sarg durchs Regierungsviertel. „Veranstaltungsbranche“ steht auf einem Sarg. Wummernde Musik ertönt. Tausende folgten dem Zug; Schauspieler, Musiker und Messebauer tragen symbolisch ihre Existenz zu Grabe.

Wer sich ärgert, wer Verständnis hat

Der Gastroverband Dehoga protestiert: „Ich habe deutlich Angst, dass mehr als 30 Prozent der Betriebe nicht wieder öffnen“, sagt Dehoga-Mann Thomas Lengfelder. Große Hotels hätten bereits wieder 90 Prozent Leerstand, Privatreisen sind im November verboten. Die Hostelkette A&O verramscht jetzt für das kommende Wochenende Einzelzimmer für 10 Euro. AfD und FDP bezeichnen die Schließungen als zu weitreichend.

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Und einige machen sich bereits Sorgen um die Zeit nach dem Lockdown. Wie bei den ersten coronabedingten Schließungen sind neben Kultur- und Veranstaltungsorten auch Bordelle und Prostitution betroffen.

Die Branche reagiert mit Verständnis – und fordert, bei der Wiedereröffnung nach dem zweiten Lockdown wie andere Betriebe behandelt zu werden. „Wenn alle Freizeiteinrichtungen schließen müssen, dann gilt das natürlich auch für unsere Branche. Aber wir wollen dann auch wieder mit allen zusammen öffnen“, sagt Johanna Weber, politische Sprecherin des Bundesverbands erotische und sexuelle Dienstleistungen, dem RND.

Der Kassenärztliche Bundesverband und die Virologen Hendrik Streeck und Jonas Schmidt-Chanasit hatten am Morgen noch vor dem Automatismus einer erneuten Schließung gewarnt: Wieder auf Lockdown zu setzen könnte eine „reflexartige Konsequenz“ aus der Entwicklung sein, schreiben sie in einem gemeinsamen Positionspapier. Den Rückgang der Fallzahlen einzuleiten sei zwar eine politisch dringend gebotene Aufgabe, aber nicht um jeden Preis.

Eine neue Einigkeit

Die Regierungschefs werben um Verständnis. „In der augenblicklichen Situation entfalten die Hygienekonzepte nicht mehr die Wirkung, die wir brauchen“, sagt die Kanzlerin. Sie sagt, sie gehe davon aus, dass die Akzeptanz für die Maßnahmen in den vergangenen zwei Wochen gestiegen sei. „Wir sind an dem Punkt, wo sichtbar ist: Wir müssen handeln.“

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Wichtig sei, dass die Bevölkerung mitziehe: „Wir sind auf die Bereitschaft der Bürger angewiesen.“

„Je länger wir warten, umso schwieriger wird es“, warnt Söder.

Eines ist an diesem Tag anders als bei den vergangenen Konferenzen: Die großen Streitereien bleiben aus. Bund und Länder ziehen an einem Strang. „Die Beschlüsse gelten bundesweit“, sagt Merkel. Sie hat sich lange gewünscht, mal einen solchen Satz sagen zu können.

Seit Tagen wurde daher mal wieder hin und her verhandelt. Allein am Mittwoch sitzen die Ministerpräsidenten in verschiedenen Runden seit dem frühen Morgen zusammen. Allein Thüringen, dessen Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) sich am Vortag verwahrt hatte gegen Anordnungen aus Berlin, hält schließlich fest, dass zunächst noch der Landtag mit den Beschlüssen befasst werden müsse.

„Ein starker Tag für die Politik“ sei es trotz aller schwierigen Entscheidungen gewesen, fasst Söder zusammen.

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Hinweis an Friedrich Merz

Ganz nebenbei serviert er zwischendurch Friedrich Merz ab, der darauf dringt, noch im Dezember auf einem Parteitag über den CDU-Vorsitz zu entscheiden, weil die Partei sonst quasi führungslos sei. „Heute war nicht der Tag, wo wir uns mit Parteifragen beschäftigen“, sagt Söder auf die Frage einer Journalistin und fügt entschieden hinzu: „Deutschland ist nicht führungslos.“

Söder ist in der Runde auch der, der die größte Zuversicht verbreitet. „Wir verordnen eine Vier-Wochen-Therapie“, sagt er. Therapie, das klingt viel positiver als Shutdown. Es gebe damit eine gute Basis, um über den Winter zu kommen, findet Söder. Impfstoffe seien schließlich in Sicht.

„Es gibt auch ein Morgen“, sagt Söder.

In dem Beschlusspapier heißt es, man wolle erreichen, dass sich Familien und Freunde auch in der Corona-Krise „in der Weihnachtszeit treffen können“.

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