Massenkarambolage im Regierungsviertel
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Keine glücklichen Gesichter: In der Ampelkoalition unter Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, Mitte) und mit Wirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen, links) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) gibt es zurzeit viel Streit (Archivbild).
© Quelle: Michael Kappeler/dpa
Liebe Leserin, lieber Leser,
es gibt einen Punkt, in dem sich die Ampelvertreterinnen und Ampelvertreter absolut einig sind und den sie wie eine Monstranz durchs Regierungsviertel tragen: Zur Demokratie gehöre der Streit dazu, sagen sie alle. Das ist nicht verkehrt. Allerdings wirkt das, was SPD, Grüne und FDP mit dem schlichten Wort Streit beschreiben, eher wie eine Massenkarambolage.
In der Regierung und in den Fraktionen geht zurzeit kaum ein Gesetzesvorhaben voran, weil jede Partei ihre Zustimmung zu dem einen Vorhaben von der Zustimmung der Koalitionspartner zu dem anderen abhängig macht. Die Koalitionäre haben ein kompliziertes Geflecht wechselseitiger Bedingungen und Abhängigkeiten geknüpft, das vor allem eines zeigt: Es gibt kein Vertrauen mehr zwischen SPD, FDP und Grünen. Die angeblichen Partner haben den Glauben daran verloren, dass Vereinbarungen und Kompromisse auch eingehalten werden.
Eine Reihe von Projekten hat die Ampel weitgehend abgeräumt, weil keine Einigung möglich ist: Das versprochene Klimageld zählt dazu, ebenso das Vorhaben eines Abgeordnetenbestechungsgesetzes. Die Pläne, einen Nationalen Sicherheitsrat zu installieren, liegen ebenfalls auf Eis – zwischen Kanzleramt und Außenministerium herrscht Dauerzwist.
Heizungsgesetz: Opposition wirft Ampel Selbstblockade und Stillstand vor
Die Opposition im Bundestag hat der Ampelkoalition vor dem Hintergrund des Streits um das Heizungsgesetz Selbstblockade und Stillstand vorgeworfen.
© Quelle: dpa
Und dass das Gebäudeenergiegesetz (einfach: Heizungsgesetz) noch vor der Sommerpause unter Dach und Fach kommen soll, glaube ich auch erst, wenn es am 7. Juli den Bundesrat passiert hat. Bislang wurde es noch nicht einmal in den Bundestag eingebracht. Die Verhandlungen der Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker werden sich wohl noch über das Wochenende ziehen, und dann bleibt die Frage, ob die Fraktionsführungen grünes Licht für eine Einbringung in den Bundestag geben.
„Sachlicher“ sei die Debatte inzwischen geworden, sagte mir ein Führungsmitglied der Liberalen. Ins Bild der Massenkarambolage übertragen heißt das: Unfallstelle wird gerade gesichert, damit sich nicht noch mehr Vehikel ineinander verkeilen.
Wann die neuen Regeln zum Heizungstausch scharf gestellt werden sollen, ob und in welcher Höhe Fördermittel festgeschrieben werden und welche Ausnahmen es gibt – zu alldem schweigen sich die Verhandler aus. Dafür erörtern die Beteiligten die Frage, ob es denn nun Zeitdruck gebe, das Gesetz unter Dach und Fach zu bringen.
Der Kern der Blockade
Die Position der FDP: Kann gelingen. Es gibt aber keinen Zeitdruck, da das Gesetz ja ohnehin nicht zum 1. Januar 2024 wirksam werden könne. Die Position des Kanzleramts: Die Kuh muss vom Eis, weil schon die bisherige Debatte zu einer massiven Verunsicherung der Bevölkerung geführt hat. Sobald das Gesetz verabschiedet sei, würden die Leute danach ihre Pläne machen und die öffentliche Diskussion werde sich beruhigen. Die Position der Grünen: Die Verabschiedung des Gesetzes sei überfällig. Es sei bereits jetzt ein Wortbruch durch die Liberalen, dass das Gesetz noch nicht in den Bundestag eingebracht worden sei.
Lindner: Politik muss wieder lernen, mit Geld auszukommen
Lindner machte klar, dass er deutliche Kürzungen bei den Ausgaben für notwendig hält. Steuererhöhungen lehnte er erneut ab.
© Quelle: dpa
Beim Heizungsgesetz geht es selbstverständlich nicht nur um das Heizungsgesetz. Im Kern der Ampelmassenkarambolage steht die Haushaltsplanung für das kommende Jahr. Die Steuerschätzung Mitte Mai hatte ergeben, dass 20 Milliarden Euro im Haushalt fehlen. Vor einer Woche schickte der Finanzminister Briefe an seine Kabinettskolleginnen und -kolleginnen, in denen er ihnen die Kürzung ihrer Mittel mitteilte. Darüber wird zurzeit hart verhandelt, weil die Ministerinnen und die Minister Lindners Vorgaben nicht akzeptieren wollen. Das Ressort von Klimaminister Robert Habeck beispielsweise braucht eigentlich einen drastischen Finanzaufwuchs, um der Bevölkerung die gewünschte Umrüstung der eigenen vier Wände auf klimafreundliches Heizen zu ermöglichen.
Es ist eine Quadratur des Kreises: Ein wirksames Heizungsgesetz kann nur mit Fördermitteln gemacht werden, die aber stehen nach Haushaltslage nicht zur Verfügung. Die letzte Sitzungswoche vor der Sommerpause ab dem 3. Juli wird also spannend. Am 5. Juli soll der Haushalt das Kabinett passieren, zwei Tage später soll der Bundesrat seinen Haken an das Heizungsgesetz machen. Oder man trifft sich nach einem turbulenten Sommer Anfang September wieder, um Wärmewende und Haushalt zu finalisieren.
Klare Ansage
Wenn sich die Regierungsparteien bei jeder Entscheidung in die Haare kriegen, entsteht das Gefühl politischer Instabilität – und davon profitiert die AfD.
Yasmin Fahimi,
Vorsitzende Deutscher Gewerkschaftsbund
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Die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes Yasmin Fahimi.
© Quelle: IMAGO/Bernd Elmenthaler
Die großen Gewerkschaften beschränken sich normalerweise darauf, ihre sozialpolitischen Forderungen an die Regierung zu adressieren. Dass die frühere SPD-Generalsekretärin und heutige DGB-Chefin Fahimi sich veranlasst sieht, einen Ordnungsruf an die Ampelregierung zu senden, zeigt, wie prekär die Lage ist. „Ich hoffe sehr, dass die Bundesregierung sich jetzt zusammenreißt und alle Fraktionen begreifen, dass im Gegeneinander am Ende niemand gewinnt“, sagte Fahimi im RND-Interview weiter. Nach allem, was in diesen Tagen von Vertreterinnen und Vertretern der Ampel zu hören ist, wird der Streit allerdings weitergehen.
Wie Demoskopen auf die Lage schauen
es gibt einen Punkt, in dem sich die Ampelvertreter absolut einig sind und den sie wie eine Monstranz durchs Regierungsviertel tragen: Zur Demokratie gehöre der Streit dazu, sagen sie alle. Das ist nicht verkehrt. Allerdings wirkt das, was SPD, Grüne und FDP mit dem schlichten Wort Streit beschreiben, eher wie eine Massenkarambolage.teil der Nichtwähler ist mit 31 Prozent deutlich größer als in den alten Bundesländern.“ Der Befund ist umso dramatischer, da sich ein Großteil der Nichtwähler eben auch von den etablierten Parteien nicht vertreten sieht. Dabei ist das Meinungsbild der Bürgerinnen und Bürger zur AfD klar: 20 Prozent bundesweit und im Osten 30 Prozent halten die Rechtspopulisten für eine „normale demokratische Partei“. Drei Vierthingegen meinen, dass die AfD am rechtsradikalen Rand angesiedelt sei.
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© Quelle: Forsa
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Das Autorenteam dieses Newsletters meldet sich am Dienstag wieder. Dann berichtet mein Kollege Markus Decker. Bis dahin!
Herzlichst
Ihre Eva Quadbeck
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