Zwang und Gewalt: Was die Polizei bei Protesten darf und was nicht
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Ein Aktivist der Protestbewegung Letzte Generation wird am 24. April 2023 nach einer Klebeaktion in Berlin mit Asphalt an der Hand abgeführt.
© Quelle: IMAGO/photothek
Die einen halten die Bilder für schwer erträglich, andere empfinden Genugtuung oder Schadenfreude: Wenn die Polizei in diesen Tagen angeklebte Klimaaktivisten der Letzten Generation von verstopften Berliner Straßen holt, geht es nicht sonderlich sanft zu.
Ein im MDR gesendetes Video aus der letzten Woche hat jedoch erneut die Debatte darüber entfacht, ob Beamtinnen oder Beamte bei der von ihnen eingesetzten Gewalt gegen friedliche Sitzblockierer überziehen und dies noch von den Gesetzen gedeckt ist.
Laut MDR war das Video am 21. April 2023 auf der Straße des 17. Juni in Berlin aufgenommen worden. Nachdem die Polizei die Blockierer und Blockiererinnen mehrfach aufgefordert hatte, die Fahrbahn zu verlassen, ist zu sehen, wie ein Beamter einen auf der Straße sitzenden Mann davor warnt, dass er ihm Schmerzen zufügen müsse, wenn er nicht selbstständig gehe.
„Schmerzen für die nächsten Tage“
Wörtlich sagt der Polizist: „Wenn ich Ihnen Schmerzen zufüge, wenn Sie mich dazu zwingen, werden Sie die nächsten Tage – nicht nur heute – Schmerzen beim Kauen und beim Schlucken haben.“ Der sitzende Mann antwortet: „So schlimm ist es nicht. Das müssen Sie nicht tun.“
Der Beamte wiederholte seine Forderung, dass der Mann die Straße verlassen solle, „ansonsten werde ich Ihnen Schmerzen zufügen“. Als der Sitzende sich nicht rührt, zählt der Beamte einen Countdown von drei ab, packt dann gemeinsam mit einem anderen Polizisten – auch an Hals und Kinn – zu und beide tragen ihn von der Straße. Dabei windet sich der Mann, die Polizisten setzen sogenannte Schmerzgriffe an den Armen – das sind Druck-, Hebel- und Zugtechniken – ein, der Mann stößt mehrmals Schmerzensschreie aus.
Die Letzte Generation fordert von der Polizei, die „folterähnlichen Methoden bei friedlichen Protestierenden“ zu beenden. Doch übertritt die Polizei tatsächlich rote Linien?
Kriminologe: Schmerzgriffe sind kein probates Mittel
Der konkrete Fall in Berlin wird derzeit noch überprüft. Die Polizeigewerkschaften gehen davon aus, dass die Beamten rechtmäßig gehandelt haben und warnen davor, dass Polizisten nun zu Tätern gemacht werden sollen.
Mann mit Hund attackiert Aktivistinnen und Aktivisten der Letzten Generation
In Berlin haben sich Klimaaktivistinnen und -aktivisten der Letzten Generation erneut auf Straßen geklebt.
© Quelle: Reuters
Tobias Singelnstein, Professor für Strafrecht und Kriminologie am Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt, sagte dem MDR, er meine, dass im Video rechtswidrige Polizeigewalt dokumentiert sei. Die Polizei habe immer zu prüfen, was das mildeste Mittel sei. Bei friedlichen Sitzblockaden wäre das Wegtragen in aller Regel das mildere Mittel. „Schmerzgriffe sind daher aus rechtlicher Sicht kein probates Mittel.“
Widerspruch meldet Markus Heintzen, Professor für Staats-, Verwaltungs- und Steuerrecht an der Freien Universität Berlin, an. Gewalt sei ein legitimes Mittel, den Verwaltungsakt des Entfernens von Personen von einer Fahrbahn zwangsweise durchzusetzen, so Heintzen. „Der Beamte hat sich vielleicht ungeschickt angestellt, indem er dem Protestierenden die möglichen Folgen unmittelbaren Zwangs so deutlich vor Augen geführt hat. Meiner Ansicht nach haben sich die Polizisten jedoch rechtskonform verhalten.“
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Markus Heintzen ist Professor für Staats-, Verwaltungs- und Steuerrecht an der Freien Universität Berlin.
© Quelle: FU Berlin
Passiver Widerstand kann schmerzhaft sein
Rechtsgrundlage, so Heintzen, sei das Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz. Danach könne ein Verwaltungsakt, so heißt es darin, auch „mit den Zwangsmitteln nach Paragraf 9 durchgesetzt werden“. Dort werden aufgezählt: Ersatzvornahme, Zwangsgeld sowie unmittelbarer Zwang. Im Paragrafen 15 heißt es zur Anwendung unmittelbaren Zwanges: „Leistet der Pflichtige bei der Ersatzvornahme oder bei unmittelbarem Zwang Widerstand, so kann dieser mit Gewalt gebrochen werden. Die Polizei hat auf Verlangen der Vollzugsbehörde Amtshilfe zu leisten.“
Auch im Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwanges bei der Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Landes Berlin heißt es in Paragraf 1: „Die Vollzugsbeamten des Landes Berlin dürfen in rechtmäßiger Ausübung ihres Dienstes unmittelbaren Zwang anwenden.“
Heintzen sieht auch die Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel gewahrt. „Der Mann wird weggetragen und leistet zumindest passiven Widerstand gegen die erforderliche Durchsetzung des Verwaltungsaktes durch die Polizisten.“ Auf Deutsch: Das kann schmerzhaft sein.
Zweifel an Verhältnismäßigkeit
Die Vizepräsidentin der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK), die Strafrechtlerin Ulrike Paul aus Sindelfingen, erinnert jedoch daran, dass über allem die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen stehe – in diesem Fall sowohl auf Seiten der Polizei als auch auf Seiten der Protestierenden. Sie sieht das Video anders als der Verwaltungsrechtler Heintzen: „Es sind Zweifel daran angebracht, dass die beiden Beamten die mildesten Mittel gewählt haben, um das Recht durchzusetzen.“
„Die Ankündigung von Schmerzen ist nicht verhältnismäßig“, stellt Paul klar. Diese Ansprache sei „ungewöhnlich, um es einmal möglichst neutral zu formulieren“.
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Rechtsanwältin Ulrike Paul ist Fachanwältin für Strafrecht und Vizepräsidentin der Bundesrechtsanwaltskammer.
© Quelle: BRAK
Die Blockierer zum Verlassen der Fahrbahn aufzufordern oder sie wegzutragen, sei verhältnismäßig, um in diesem Fall die öffentliche Ordnung wiederherzustellen, meint die Anwältin. „Wenn sich Demonstranten dagegen wehren, werden Zwangsmaßnahmen notwendig. Dabei kommt dann logischerweise Gewalt seitens der Polizei ins Spiel. Beamte und Beamtinnen müssen jedoch auch hier verhältnismäßig handeln“, so Anwältin Paul. „Vielleicht wäre es in dem Berliner Fall möglich gewesen, den Mann mit mehr als zwei Beamten wegzutragen, um nicht unnötig viel körperliche Gewalt anzuwenden.“
Die Juristin hat Verständnis, wenn die Polizei verhältnismäßig hart eingreift, wenn die Bediensteten selbst angegriffen werden. Als Beispiele nennt sie Gewalt gegen Polizeikräfte in der letzten Silvesternacht in Berlin oder im Juni 2020 in Stuttgart. „Das Genervtsein von den Aktionen der Klimaaktivisten ist jedoch kein Grund, so hart einzusteigen, wie in dem Video zu sehen ist.“