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Russlands Krieg

Wie gezielte russische Angriffe das ukrainische Gesundheitswesen belasten

Ukrainische Feuerwehrleute sind im November 2022 an einer beschädigten Entbindungsstation eines Krankenhauses in Wilnjansk im Einsatz.

Ukrainische Feuerwehrleute sind im November 2022 an einer beschädigten Entbindungsstation eines Krankenhauses in Wilnjansk im Einsatz.

Walentyna Mosgowa fegt Glasscherben und andere Trümmer aus den leeren Hallen des ausgebombten Krankenhauses, in dem sie ihre Karriere begann. Die 55‑jährige Labortechnikerin, die nun im Keller des Gebäudes lebt, arbeitet inzwischen als letzte Wächterin des zentralen Bezirks­kranken­hauses Marinskaja in der Region Donezk.

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Im Jahr 2017 und erneut 2021 wurde die Einrichtung von russischer Artillerie getroffen. Doch erst der vielfache Beschuss der vergangenen sieben Monate zwang das medizinische Personal zur Flucht und zerstörte Schlüsselbereiche wie die Neurologie und die Gynäkologie – ebenso eine allgemein­medizinische Klinik.

Für 250 Euro im Monat arbeitet Mosgowa als Wachfrau im zerbombten Krankenhaus

Mosgowa entschied sich zu bleiben. Nachdem sie seit dem Ende ihrer Ausbildung Ende der 1980er-Jahre in den Laboren des Krankenhauses gearbeitet hatte, willigte sie ein, für umgerechnet etwa 250 Euro im Monat hier zur Wachfrau zu werden. Bald schlossen sich ihr und ihrem Mann im Keller der Einrichtung fünf weitere Menschen an, die ihr Zuhause durch Bombardierungen verloren hatten – außerdem ein Hund und eine Katze.

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Alle drei Tage, pünktlich um 8 Uhr, schnappt Mosgowa sich den Besen, inspiziert die Flure und weicht dabei vorsichtig den Fragmenten russischer Geschosse aus, die auf den Böden verstreut sind. Sie befürchtet eine weitere Explosion. „Alles verfällt und fällt auseinander“, sagte sie der Nachrichten­agentur AP. „Aber ich habe es so satt. Ich will mein Leben normal leben, in meinem Bett schlafen, fernsehen, nicht beim Geräusch einer Explosion hochschrecken, in Ruhe zur Arbeit gehen und meinen Job machen.“

Russlands Krieg: mehr als 700 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen in der Ukraine

Etwa ein Jahr nach dem Beginn des brutalen russischen Angriffs­krieges fordern die Hunderten Attacken auf das Gesundheitswesen der Ukraine zusehends Tribut. Mehr als 700 Angriffe trafen seit der russischen Invasion vom 24. Februar 2022 Gesundheits­einrichtungen und deren Mitarbeiter. So geht es aus Daten hervor, die fünf Organisationen verifiziert haben, die in der Ukraine tätig sind.

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Auf ähnliche Weise hat die Welt­gesundheits­organisation (WHO) mehr als 750 Angriffe und 101 Todesfälle dokumentiert. Von der Spitze des ukrainischen Gesundheits­ministeriums hieß es jüngst, mehr als 1200 Einrichtungen seien entweder direkt oder indirekt beschädigt worden. 173 Krankenhäuser seien nicht mehr zu retten.

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Bericht wirft Russland vor, gezielt das Gesundheitswesen zu attackieren

Der am Dienstag veröffentlichte Bericht wirft Russland vor, das ukrainische Gesundheits­wesen vorsätzlich und wahllos attackiert zu haben. Demnach waren die Attacken zum Beginn des Krieges am heftigsten. Insgesamt 278 wurden in den letzten vier Tagen des Februars sowie im gesamten März attestiert – durchschnittlich acht pro Tag.

Der Bericht definiert Attacken nicht bloß als Waffengewalt, sondern umfasst auch Bedrohungen, die darauf ausgerichtet waren, Ärzte dazu zu zwingen, in besetzten Gebieten weiter zu arbeiten – oder Diebstahl aus Gebieten, die die russischen Streitkräfte nicht halten konnten.

Putin gibt Westen Schuld an Krieg gegen Ukraine

In seiner Rede zur Lage der Nation wirft Wladimir Putin dem Westen vor, einen lokalen Konflikt in einen globalen zu verwandeln.

Aus der Stadt Cherson berichteten Anwohner, die Russen hätten bei ihrem Rückzug die meisten Krankenwagen mitgenommen. Bei der Einnahme Mariupols übernahmen die russischen Streitkräfte das letzte noch funktionierende Krankenhaus der Stadt – Tage nach dem verheerenden russischen Luftangriff auf eine Entbindungsstation.

In Isjum durchschlugen Sprengsätze im März die Wände des Haupt­kranken­hauses, zerfetzten die Verkabelung und zwangen Ärzte und Patienten in die Kellerräume. Bevor sie sich in den Keller zurückgezogen hätten, hätten sie Patienten mit Matratzen abgedeckt, weil sie gedacht hätten, dass ihnen dies Schutz vor Schrapnellen bieten werde, sagt der Unfallchirurg Jurij Kusnezow, der eine Zeit lang der einzige Arzt des Krankenhauses war. Aktuell können drei der vier Stockwerke genutzt werden. Wasser tropft von der Decke.

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Experten sehen Muster hinter den russischen Angriffen

Das Jahr über geschahen an unterschiedlichen Orten in der Ukraine Angriffe auf Krankenhäuser, Rettungswagen und medizinisches Personal. „Sie folgen bestimmten Mustern, und es sind diese Muster, die wichtig sind, nicht einmal die Zahl“, sagt Pawlo Kowtoniuk von der Denkfabrik Ukrainische Gesundheits­fürsorge, die zu den Gruppen gehört, die die Daten zu den Angriffen sammelten. Denn Muster bedeuteten, dass es sich wahrscheinlich um ein absichtliches Vorgehen, nicht um Zufälle oder Einzelfälle handele, sagt er.

Russland behauptet, die Ukraine habe ebenfalls Krankenhäuser in Gebieten angegriffen, die von den Truppen Moskaus besetzt gehalten werden oder wurden. Aber Kowtoniuk sagt, es gebe einen großen Unterschied zwischen der riesigen Zahl systematischer Angriffe, die dokumentiert worden sei – und dem, was er als Vorfälle beschrieb, die sich in einem Kampf ums Überleben im Zuge eines Krieges ereigneten.

Warum attakiert Russland gezielt die Gesundheits­versorgung?

Die Angriffe offenbarten ein ausgeprägtes Bewusstsein für die gesammelten Auswirkungen, die diese auf die Gesundheit der Zivilbevölkerung hätten, sagt Christian De Vos, Direktor für Forschung und Ermittlungen bei Physicians for Human Rights, der an dem Bericht beteiligt war.

Es ist Teil einer Destabilisierungstaktik, um Angst in der breiteren Bevölkerung zu säen.

Christian De Vos,

Direktor für Forschung und Ermittlungen bei Physicians for Human Rights

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„Die Schäden an Krankenhäusern und Gesundheits­einrichtungen haben dazu geführt, dass die Versorgung der Bevölkerung oft mangelhaft ist“, sagt der Präsident der spanischen Sektion von Ärzte der Welt Pepe Fernández.

Die Ukraine hat die zweithöchste Rate an HIV-Infektionen in Europa und Zentralasien und eine der höchsten Raten an medikamenten­resistenter Tuberkulose. Seit dem russischen Einmarsch ist die Zahl der Menschen, die sich wegen dieser Erkrankungen behandeln lassen, stark zurückgegangen.

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Dabei ist die Verfügbarkeit von Medikamenten dank zahlreicher Spenden nicht das Problem. Stattdessen erweist sich die massenhafte Entwurzelung von Ukrainern als Problem dafür, neue Infektionen festzustellen oder weiterzuverfolgen. Aufgrund von zerstörten Straßen und einem Mangel an sicheren Routen sind Krankenhäuser und Ärzte außerdem schwer zu erreichen.

„In der öffentlichen Gesundheit sind wir stark und widerstandsfähig“

Andrij Klepikow, der die Allianz für Öffentliche Gesundheit leitet, eine Organisation, die mit mobilen Kliniken Städte an den Frontlinien versorgt, sorgt sich um die Erkrankungen, die undiagnostiziert bleiben.

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Doch was die Fähigkeit seines Landes angeht, neu aufzuerstehen, ist er zuversichtlich. Beim Gesundheits­system gehe es nicht um Mauern, Gebäude oder gar Ausstattung. „Es geht um Menschen“, sagt er. „Das ukrainische Militär ist bekannt für seine Stärke und Widerstandskraft, aber im Bereich der öffentlichen Gesundheit sind wir gleichermaßen stark und widerstandsfähig.“

Zurück im Krankenhaus in Krasnohoriwka sagt die Wachfrau Mosgowa, sie und ihr Mann planten nicht, sich dauerhaft ihren erwachsenen Kindern in Lwiw anzuschließen, das als einigermaßen sicher gilt. „Sie sagen uns, dass wir kommen sollen und dass sie Platz hätten, aber was werde ich tun? Ich werde dort ein Gast sein. Also werde ich hierbleiben, solange ich Arbeit habe. Ich versuche, hier nützlich zu sein“, sagt sie. „Wie gut es auch immer war mit meinen Kindern und Enkeln, so denke ich doch immer noch an diesen Ort, weil er mein Zuhause ist.“

RND/dwg/AP

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