„Dieser Schritt ist typisch für Russlands Kriegsführung“
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Das von Planet Labs PBC zur Verfügung gestellte Satellitenbild zeigt einen Überblick über die Schäden am Kachowka-Damm im Süden der Ukraine.
© Quelle: Uncredited/Planet Labs PBC/AP/dp
Gnadenlos bricht sich das Wasser Bahn, frisst sich Kubikmeter um Kubikmeter durch die Überreste, die einmal der Kachowka-Staudamm gewesen waren. „Der Wasserstand des Stausees sinkt jetzt schnell und die Trinkwasserversorgung vieler Städte ist gefährdet“, so András Rácz, Militärexperte bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Auch die Wasserversorgung auf der Krim sei in Gefahr.
Am Dienstagmorgen wurde die Staumauer und das Wasserkraftwerk im vom Russland besetzten Teil Chersons zerstört. Die Ukraine macht für die Explosionen Russland verantwortlich. Der Kreml sprach von ukrainischer Sabotage, ohne Beweise dafür vorzulegen. Das Wasserkraftwerk, seit Monaten von Russland besetzt, war vor dem Krieg für die Stromerzeugung von großer Bedeutung. Der Betreiber teilte am Nachmittag mit, dass ein neues Kraftwerk dort aufgebaut werde. „Es wird Jahre dauern, bis es wiederaufgebaut ist“, sagt Rácz dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Stausee versorgte AKW Saporischschja mit Kühlwasser
Die Konsequenzen für die Zivilbevölkerung werden dramatisch sein, fürchtet Gustav Gressel, Militärexperte des European Council on Foreign Relations (ECFR). „Das wird für die Menschen vor allem in den Sommermonaten sehr schlimm.“ Die militärischen Einrichtungen auf der Krim würden durch mobile Wassertanks versorgt, die Zivilbevölkerung zeitnah evakuiert. „Wir sehen bereits, dass politische Gefangene von der Krim auf das russische Hinterland verlegt werden“, so Gressel.
Eine Reparatur des Staudammes sei nicht möglich, so der von Russland eingesetzte Bürgermeister von Nowa Kachowka im russischen Staatsfernsehen. Auch der ukrainische Kraftwerksbetreiber sprach von einer kompletten Zerstörung der Anlage. Bilder zeigen, dass die Staumauer auf etwa 300 Meter zerstört wurde. Laut Simulationen für einen solchen Fall ist eine Flutwelle von vier bis fünf Metern die Folge, die auf den Hafen von Cherson zurollt.
Neben dem Wasserkraftwerk ist auch das bereits heruntergefahrene Atomkraftwerk Saporischschja auf Kühlwasser aus dem Stausee angewiesen. Das Kraftwerk war zuletzt unter russischer Kontrolle und auf einen der höchsten Stände seit Langem aufgestaut. Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA sprach am Dienstag jedoch von „keinem unmittelbaren nuklearen Sicherheitsrisiko“. Expertinnen und Experten der Behörde am Atomkraftwerk Saporischschja würden die Situation überwachen, teilte die IAEA mit.
Nach Angaben der Ukraine War Environmental Consequences Working Group, die mögliche Folgen des Krieges einschätzt, könnte eine vollständige Zerstörung der Staumauer dazu führen, dass kein Kühlwasser mehr für das Atomkraftwerk Saporischschja zur Verfügung steht. Ähnlich schätzt das auch Experte Rácz ein. Das Kernkraftwerk Saporischschja habe zwar ein eigenes Becken für Kühlwasser, sodass die Kühlung der stillgelegten Kraftwerksblöcke gewährleistet sei. „Wenn die Flutwelle aber die Mauern des Beckens beschädigt, verliert es nach und nach Kühlwasser“, sagt Rácz. Das ukrainische Außenministerium bestätigte die Gefahr eines Zwischenfalls infolge des zerstörten Staudamms.
Clemens Walther, Professor an der Leibniz Universität Hannover und Leiter des Instituts für Radioökologie, schätzt die Gefahr ähnlich ein. Er sagte dem RND: „Sollte aus irgendeinem Grund diese Katastrophe dazu führen, dass die letzte Stromleitung zum Kraftwerk zerstört wird, dann könnte eine Gefahr bestehen. Dann wäre die Kühlung eventuell durch die eigene Kraft des eigenen Generators nicht mehr lange gewährleistet.“
Lebensgefahr für Anwohnerinnen und Anwohner: Evakuierung in Cherson läuft
Weil das Wasser des Stausees in hoher Geschwindigkeit flussabwärts fließt, befinden sich Tausende Anwohnerinnen und Anwohner in Lebensgefahr. Erste Orte in der Region Cherson wurden schon am Vormittag überflutet. In der Stadt Cherson leben die Menschen seit Monaten unter russischem Artilleriefeuer. Luftaufnahmen zeigten, dass dort im Stadtteil Korabel von vielen eingeschossigen Häusern nur noch das Dach aus dem Wasser ragte. Stark betroffene Gebiete sind auch entlang des russisch besetzten Ufers. Dort befinden sich zwar auch Posten der russischen Armee, die nun unter Wasser stehen. „Das sind aber keine wichtigen Stellungen“, macht Gressel deutlich. Diese würden sich viel weiter östlich befinden und seien voraussichtlich gar nicht von einer Überflutung betroffen.
Bis zu 80 Ortschaften sind der ukrainischen Regierung zufolge durch die Überschwemmungen bedroht, wie Ministerpräsident Denys Schmyhal am Morgen mitteilte. Auf ukrainischer Seite läuft deshalb ein Notfallplan. Die Bevölkerung in ersten Städten, wie in Nikopol, ist aufgerufen, Trinkwasserreserven anzulegen. Zivilistinnen und Zivilisten aus den tiefer gelegenen Gebieten am Dnipro werden vom Katastrophenschutz mit Bussen evakuiert. Die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA meldete, dass 22.000 Menschen in 14 Ortschaften im Süden der Region von Überschwemmungen bedroht seien. Russland hatte Cherson für annektiert erklärt, kontrolliert aber nur Teile der Region.
Tausende Menschen von Folgen des zerstörten Staudamms in der Südukraine betroffen
Durch eine heftige Explosion bricht ein wichtiger Staudamm im Süden der Ukraine. Die Wassermassen bedrohen Tausende Anwohnerinnen und Anwohner.
© Quelle: Reuters
Nach Angaben des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes in der Ukraine gehöre der zerstörte Staudamm und die Folgen zu den größten Schäden an der zivilen Infrastruktur seit Februar 2022. Die Organisation betonte, dass Staudämme durch das Völkerrecht besonders geschützt sind und kritisiert, dass sich Zehntausende Menschen in Lebensgefahr befinden.
Mindestens 150 Tonnen Maschinenöl sollen in den Fluss Dnipro gelangt sein, heißt es aus Kiew. 300 weitere Tonnen Öl drohten noch auszulaufen.
Russland sichert seine Westflanke
Laut Experte Rácz verfolgt Russland mit dem zerstörten Staudamm primär militärische Ziele: „Die Russen haben durch die Sprengung des Staudamms ihre Westflanke gesichert.“ Russland verübe mit der Überschwemmung zwar auch Terror gegen Zivilistinnen und Zivilisten, aber die Sprengung folge vor allem aus militärischer Logik: „Die Ukraine kann jetzt nicht mehr von Westen die besetzten Gebiete angreifen – nicht einmal mit Spezialkommandos.“ Dieser Schritt sei typisch für Russlands Art der Kriegsführung.
„Das massive Hochwasser macht jede Art von Militäroperation am Dnipro unmöglich“, so Rácz. Die ukrainischen Spezialeinheiten auf der anderen Seite des Flusses müssten jetzt sehr schnell ihre Positionen verlassen, denn das überflutete Gebiet werde zu einer großen und unüberwindbaren natürlichen Barriere. „Wir kennen die Pläne für die Gegenoffensive der Ukraine nicht. Aber, wenn die Ukraine irgendeine Offensive am Dnipro geplant hat, haben die Russen diese Pläne jetzt zunichtegemacht“, sagt Rácz.
„Dieser Schritt ist typisch für Russlands Art der Kriegsführung. Der militärischen Logik wird alles untergeordnet.“
András Rácz,
Experte für Russlands Militär bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP)
Die Sprengung des Staudamms sei ein klassischer Verteidigungszug, den es in der Geschichte der Kriegsführung schon häufig gegeben habe, um die Offensive des Angreifers zu behindern. Für Russland bedeute das vor allem Zeit, erklärt der DGAP-Militärexperte. Selbst wenn der Wasserpegel sinke, dauere es noch Wochen, bis das Gebiet trocken sei.
Ähnlich sieht das auch Gustav Gressel: „Ein Angriff über den Dnipro wäre schon vor der Zerstörung ein reines Himmelfahrtskommando gewesen, weil die Russen dort viele Reserven haben“, sagt Gressel dem RND. „Ein Anlanden über den Dnipro erfordert viele Kräfte und ist sehr komplex.“ Die ukrainischen Streitkräfte hätten laut Gressel wahrscheinlich erst vom Dnipro aus angegriffen, wenn die Gegenoffensive schon im Gang gewesen wäre. Damit hätten sie die Russen zum Rückzug zwingen und durch einen solchen Ablenkungsangriff russische Reserven binden können. „Von solchen amphibischen Operationen sind wir aber mindestens einen Monat entfernt“, sagt Gressel.
Russland hat eine ökologische Massenvernichtungswaffe gezündet.
Wolodymyr Selenskyj,
ukrainischer Präsident
Auch der Russlandexperte Anders Aslund sieht in der Sprengung des Kachowka-Staudamms den Beginn einer „neuen Phase“ des Kriegs. „Ursprünglich wollte Putin die gesamte Ukraine erobern und nicht ihre Infrastruktur zerstören“, schreibt Aslund auf Twitter. „Putin hat das Ziel, die Ukraine zu erobern, aufgegeben. Den Damm zu sprengen ist der Start der grundsätzlichen Zerstörung der Ukraine.“
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Dieses von Planet Labs PBC zur Verfügung gestellte Satellitenbild zeigt einen Überblick über die Schäden am Kachowka-Damm im Süden der Ukraine.
© Quelle: Uncredited/Planet Labs PBC/AP/dp
Die Ukraine forderte, Russland für den „Terroranschlag“ zur Rechenschaft zu ziehen und aus dem UN-Sicherheitsrat auszuschließen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die Sprengung mit dem Einsatz einer Massenvernichtungswaffe verglichen. „Das ist die größte menschengemachte Umweltkatastrophe in Europa seit Jahrzehnten“, sagte er bei einer Sicherheitskonferenz in der slowakischen Hauptstadt Bratislava. „Russland hat eine ökologische Massenvernichtungswaffe gezündet.“
Bundeskanzler Olaf Scholz sagte, die Zerstörung des Staudamms reihe sich ein „in viele, viele der Verbrechen, die wir in der Ukraine gesehen haben, die von russischen Soldaten ausgegangen sind“. Er sprach von einer „neuen Dimension“ der Kriegsführung. Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), sagte dem RND: „Dieser Angriff Russlands auf den Kachowka-Stausee ist ein weiteres unvorstellbar grauenhaftes Kriegsverbrechen.“ Es zeige einmal mehr, zu welch brutalem Vorgehen Putin bereit ist. „Es beweist auch: Dieses Regime will niemals verhandeln.“
Polen hat die Zerstörung eines wichtigen Staudamms in der Südukraine als „beispiellosen Akt russischer Barbarei“ bezeichnet und neue Sanktionen gegen Moskau gefordert.