Jean Asselborn zu Russland: „So ernst war die Lage noch nie in den vergangenen 17 Jahren“
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Die Beziehungen zwischen der EU und Russland erkalten - und das macht dem Außenminister von Luxemburg, Jean Asselborn, große Sorgen. Kremlchef Wladimir Putin macht bei den EU-Forderungen, den Oppositionellen Alexej Nawalny freizulassen, dicht. Nicht nur deshalb bröckelt die Beziehung.
© Quelle: imago images/ITAR-TASS/dpa/RND Montage Behrens
Brüssel. Jean Asselborn (71) ist der dienstälteste Außenminister in der Europäischen Union. Seit fast 17 Jahren ist der Sozialdemokrat Außenminister von Luxemburg.
Herr Asselborn, am Samstag hat ein russisches Gericht den Kremlkritiker Alexej Nawalny zu zweieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt. Was bedeutet das Urteil für die Beziehungen zwischen der EU und Russland?
Wir sind seit der Krim-Annexion von 2014 in einer schweren Krise. Leider scheint es, als hätten wir den Tiefpunkt noch nicht erreicht. Wir haben uns entfremdet, wie das Urteil gegen Nawalny zeigt. Russland sieht mittlerweile sogar in unseren demokratischen Werten eine Bedrohung. So ernst war die Lage noch nie in den fast 17 Jahren, in denen ich Außenminister bin. Der russische Außenminister Sergej Lawrow, der seit 2017 nicht mehr in Brüssel war, will nicht einmal mehr ausschließen, dass sein Land die Beziehungen zur EU abbricht. Das geht schon tief. Ich kann jeden verstehen, der sich jetzt voller Sorge fragt: Steuern wir auf einen neuen Kalten Krieg zu?
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Nawalnys Freilassung gefordert, Russland scheint das nicht zu interessieren. Was sagen Sie?
Meine Erwartung ist ganz klar: Nawalny muss freigelassen werden. Das sagt nicht allein die EU, sondern auch der Europarat, in dem Russland Mitglied ist. In der Tat hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, wo auch russische Richter sitzen, das so entschieden. Es geht also nicht, dass Moskau von Einmischung in interne Angelegenheiten spricht, nur weil dem Kreml die Forderungen des Straßburger Gerichts nicht gefallen. Das ist realitätsfremd.
Die EU ist in einem Dilemma. Sie fordert vehement die Freilassung Nawalnys, will aber das Tischtuch nicht zerschneiden. Wie soll das gehen?
Es muss gehen. Die EU-Außenminister sind die Arbeiter am Hochofen der Außenpolitik, die dafür sorgen müssen, dass der Ofen nicht explodiert. Das ist unsere Aufgabe. Wir brauchen uns doch gegenseitig. Die EU und die USA brauchen Russland, um die Krisen im Nahen Osten, in Syrien, in Libyen und den Atomstreit mit dem Iran zu lösen. Und Russland braucht die EU, weil Europa sein größter Handelspartner ist. Dennoch verhält sich Lawrow aggressiv. Mir scheint, dass da viel Nervosität im Spiel ist.
Wie meinen Sie das?
Der Kreml weiß ganz genau, dass vor allem die Mittelschicht in Russland frustriert ist, und die guckt nach Europa, nicht nach China oder sonst wohin. Es waren die jungen, gut ausgebildeten Menschen, die für Nawalny auf die Straße gegangen sind. Es geht wirtschaftlich nicht voran, und überdies wurde die Verfassung des Landes so geändert, dass sich der Regierungsapparat noch viele Jahre an der Macht halten kann. Wer sich seiner selbst sicher ist, der verhaftet doch nicht Tausende von Menschen, die einfach nur auf der Straße ihre ablehnende Meinung zum Ausdruck bringen.
Was heißt das nun für mögliche Sanktionen? Werden die EU-Außenminister an diesem Montag Strafmaßnahmen beschließen?
Lassen Sie mich erst einmal grundsätzlich sagen: Wir sind kein Sanktionierungskomitee. Denn Sanktionen zu verhängen, das ist keine Politik. Gleichzeitig müssen wir aber auch klar sagen: Verstöße gegen Menschenrechte werden wir nicht dulden. Appeasement wird es in dieser Sache nicht geben.
Was heißt das konkret?
Wir werden aller Voraussicht nach personenbezogene Sanktionen gegen Verantwortliche aus dem russischen Machtapparat auf den Weg bringen. Der Auswärtige Dienst der EU muss dann eine Liste mit Namen erstellen, die von den Sanktionen betroffen sind. Wichtig ist, dass die Sanktionen gerichtsfest sind und uns nicht vor dem Europäischen Gerichtshof auf die Füße fallen.
Wird das den Kreml beeindrucken? Sogar die Wirtschaftssanktionen wegen der Krim-Annexion im Jahr 2014 sind wirkungslos verpufft. Warum gehen Sie nicht auf die Forderung der russischen Opposition ein und nehmen Putin-freundliche Oligarchen ins Visier, deren Jachten in europäischen Mittelmeerhäfen liegen und die viele Immobilien in der EU besitzen?
Noch einmal: Sanktionen sind keine Politik. Ich glaube, dass es kaum möglich ist, Oligarchen zu sanktionieren. Wir können nur gegen Amtsträger vorgehen, und das auch nur, wenn wir Beweise haben. Außerdem gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass sich die Zeiten auch wieder ändern. Im Streit um das iranische Atomprogramm herrschte zwischen den USA und Iran zum Beispiel viele Jahre Funkstille. Seit Joe Biden US-Präsident ist, rührt sich da wieder etwas zum Positiven. Das kann auch zwischen der EU und Russland klappen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass wir wieder Vertrauen aufbauen und uns darauf besinnen, dass wir einen Kontinent teilen und miteinander gute Entscheidungen für die Menschen auf diesem Kontinent treffen müssen.
Wie stehen Sie zur Ostseepipeline Nord Stream 2, die von Polen und den baltischen Staaten kategorisch abgelehnt, von der deutschen Bundesregierung aber ebenso kategorisch befürwortet wird?
Das ist ein Projekt verschiedener Wirtschaftsunternehmen, kein politisches Projekt der EU. Außerdem lässt sich der Streit meines Erachtens schnell beilegen, und alle Seiten wären beruhigt. Die Bundesregierung hat schon vor Jahren versprochen, dass das Gas durch die neue Ostseepipeline nur dann fließen soll, wenn zugleich weiter Gas aus der Landpipeline von Russland durch die Ukraine nach Europa fließt. Es könnte nicht schaden, wenn die deutsche Seite noch einmal betonen würde, dass Russland der Ukraine nicht einfach den Gashahn zudrehen kann.
Die deutsche Bundeskanzlerin wird dafür kritisiert, dass sie während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft die Bestellung des Corona-Impfstoffs in EU-Kommissionshände gelegt und sich um den Verlauf nicht weiter gekümmert habe. Hat die Kanzlerin zum Ende ihrer Amtszeit an Einfluss in der EU verloren?
Nein, das stimmt nicht. Man sollte auch, bitte schön, nicht alles durch die deutsche Brille sehen. Die Kritik an Merkel ist innenpolitisch motiviert, sonst nichts. Und was die Impfstofffrage angeht: Ich bin der Außenminister eines kleinen EU-Landes und mag mir gar nicht vorstellen, was geschehen wäre, wenn sich jede Regierung allein um den Impfstoff hätte kümmern müssen. Das wäre schiefgegangen. Ich finde, diese Schuldzuweisungen sind völlig fehl am Platz. Weltweit muss die Produktion von mehr Impfstoff vorangetrieben werden. Das muss der Fokus der Debatte sein.
Die EU appelliert an Russland, rechtsstaatliche Normen einzuhalten. Dabei gelingt das nicht einmal in der EU selbst. Die Regierungen in Polen und Ungarn untergraben regelmäßig rechtsstaatliche Prinzipien. Ist das europäische Modell in Gefahr?
Die Regierungen in Polen und Ungarn stellen die Unabhängigkeit der Justiz und die Pressefreiheit offen infrage. Es gibt auch schon Trittbrettfahrer wie die Regierung in Slowenien. Das ist wie ein Geschwür. Wenn sich das ausbreitet, bringt das den Grundpfeiler der EU ins Wanken. Wenn wir uns selbst nicht mehr an die Rechtsstaatlichkeit halten, dann sollten wir auch nicht mehr mit dem Finger auf andere Staaten zeigen.
Und was lässt sich dagegen tun?
Die EU-Kommission ist die Hüterin der Verträge. Sie tut auch viel, um gegen diese Missstände vorzugehen. Da muss aber noch mehr kommen. Ich warne vor allem die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten, keine Spielchen zu spielen. Alle müssen sich an Urteile des Europäischen Gerichtshofs halten, ausnahmslos alle. Niemand darf sich anmaßen, die Urteile auch nur ansatzweise zu seinen eigenen Gunsten auszulegen, wie das vor allem bei Urteilen zur Migration geschehen ist.
Dabei hält sich Ihr eigenes Land auch nicht immer an die europäischen Spielregeln. Unlängst brachten Medienrecherchen zutage, dass Luxemburg weiter eine „innereuropäische Steueroase“ ist. Was sagen Sie zu den Vorwürfen, dass in Luxemburg Großkonzerne und vermögende Personen Milliardengewinne verschieben können?
Wir sind ein sehr kleines Land mit einem sehr großen Finanzplatz. Wir haben aber in den letzten sechs Jahren sehr viel für eine bessere Hygiene in der Finanzwirtschaft getan. Wir haben das Bankgeheimnis abgeschafft. Die internationale Taskforce zur Bekämpfung der Geldwäsche hat uns zuletzt auf eine Stufe mit Deutschland gestellt. Das ist eine gute Zensur. Wir haben auch seit anderthalb Jahren ein Transparenzregister. So etwas gibt es in Frankreich zum Beispiel noch nicht.
Ich will aber nicht ausweichen. Wir nehmen die Kritik sehr ernst. Wir müssen uns noch mehr anstrengen und nachlegen. Und wir werden das mit allen Mitteln tun, indem wir die Kontrollen verstärken. Kein Mensch will, dass die Mafia in Luxemburg Geschäfte macht und multinationale Konzerne keine Steuern zahlen. Ich bin überzeugt, dass in ein, zwei Jahren Berichte über den Luxemburger Finanzplatz diese Anstrengungen widerspiegeln.