Milliarden fürs Militär statt Pazifismus

Die radikalste Zeitenwende der Welt: Japan rüstet auf

Ein Mitglied von Japans Selbst­verteidigungs­kräften bei einer Übung.

Ein Mitglied von Japans Selbst­verteidigungs­kräften bei einer Übung.

Auf den ersten Blick ist kaum ein Staat der Welt so friedfertig wie Japan. In Artikel 9 seiner Verfassung erkennt das Land sich selbst das Recht zur Kriegführung ab – „für immer“, wie es darin heißt. Entsprechend gehört Japan nicht nur keinem Militärbündnis wie der Nato an, sondern hat auch offiziell kein Militär. Und die „Selbst­verteidigungs­kräfte“ sind in ihren Befugnissen auch bei internationalen Einsätzen eingeschränkt. Seit dem Aggressionskrieg im Zweiten Weltkrieg übt sich Japan als Nation, die mit Krieg nichts zu tun haben will.

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Wer aber die Dokumente sieht, die am Freitag von der Regierung beschlossen worden sind, erhält einen anderen Eindruck. Japans neue Nationale Sicherheitsstrategie sorgt sogar für eine so deutliche Verschiebung seiner Verteidigungspolitik, wie sie vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar kaum denkbar gewesen wäre. Das ostasiatische Land befindet sich im „ärgsten und kompliziertesten Sicherheitsumfeld“ seit dem Zweiten Weltkrieg, heißt es in den Papieren. Entsprechend deutlich reagiert die Regierung in Tokio nun.

Japans Selbst­verteidigungs­kräfte haben fortan mehr Feinde, Rechte und Mittel. Neben Nordkorea und China zählt nun auch Russland offiziell zu den „potenziellen Bedrohungen“. Als „größte strategische Herausforderung“ wird China bezeichnet, womit Japan der Bewertung der USA entspricht. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind die Vereinigten Staaten Japans wichtigster Sicherheitspartner, beide Staaten halten gemeinsame Übungen ab. Zudem werden die Selbst­verteidigungs­kräfte prinzipiell auch zu militärischen Gegenschlägen autorisiert. Das Verteidigungs­budget wird verdoppelt.

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Um den Plan, der zunächst für zehn Jahre gelten soll, umzusetzen, fehlen dem Staat derzeit mehr als eine Billion Yen (rund 6,8 Milliarden Euro) – diese sollen maßgeblich durch höhere Steuern auf Unternehmen, Einkommen sowie Tabak finanziert werden. Für den konservativen Premierminister Fumio Kishida, der inmitten mehrerer Regierungsskandale schon länger mit schwachen Umfragewerten kämpft, wird das Vorhaben zu einem Stresstest. Das Lohnniveau in Japan stagniert seit Langem, die Inflation belastet die Haushalte. Höhere Steuern sind unpopulär.

Bedrohungen in der Region nehmen zu

Zugleich argumentiert die Regierung, eine Stärkung der Verteidigungs­kapazitäten sei unausweichlich: Neben dem immerzu zündelnden Nordkorea, das in diesem Jahr so viele Waffentests gemacht hat wie nie zuvor, verhält sich auch China seit Jahren zusehends aggressiv. Im indopazifischen Raum führen diverse Staaten, darunter auch Japan, Territorial­streitigkeiten mit China. Zudem fühlt sich das demokratisch regierte Taiwan, welches man im aus Peking regierten Festlandchina als Teil des eigenen Territoriums betrachtet, existenziell bedroht.

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Peking hat mehrmals angedroht, Taiwan notfalls auch unter Zwang unter die eigene Kontrolle zu bringen. Im Fall einer Invasion wurde aus Japan – wie auch aus den USA – angedeutet, man stehe auf der Seite Taiwans. So wurde die neue Strategie, die auch die Wichtigkeit der Stabilität zwischen Festlandchina und Taiwan betont, insbesondere in Taiwan begrüßt. In Peking und Russland dagegen macht sich Tokio kaum Freunde. Insbesondere in Peking, das im Zweiten Weltkrieg von Japan angegriffen wurde, interpretiert man steigende japanische Militärausgaben als Geste der Aggression.

Die neue Nationale Sicherheitsstrategie markiert nicht das erste Mal, dass Japan seine Muskeln anspannt und aufzubauen beschließt. Unter der Regierung des nationalistisch eingestellten Shinzo Abe, der Japan von 2012 bis 2020 regierte, wurde die sicherheitspolitische Ausrichtung im Jahr 2013 neu formuliert. In den darauffolgenden Jahren wurden nicht nur das Verteidigungsbudget erhöht und die japanische Waffenindustrie zu Exporten autorisiert.

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Abes Regierung beschloss auch, die Verfassung auf die Weise neu zu interpretieren, dass Japan in bestimmten Fällen auch militärisch aktiv werden dürfe. Sofern ein strategischer Partner von Japan – also maßgeblich die USA, die in Japan diverse Militärbasen unterhalten – angegriffen werde, wäre demnach auch Japan bedroht und dürfe deshalb militärisch verteidigen. Kritikerinnen und Kritiker sahen in dieser Marschroute eine Verletzung der Verfassung, Befürwortende hingegen eine zeitgemäße Interpretation.

Mittlerweile befürworten die meisten Parteien im Parlament eine Stärkung unserer Verteidigung.

Ken Jimbo,

Professor für internationale Politik an der Keio-Universität in Tokio

Der Krieg in der Ukraine hat damit auch in Japan für eine neue Realität gesorgt. Über die vergangenen Jahrzehnte hat die konservative Liberaldemokratische Partei (LDP), die auch derzeit die Regierung stellt, immer wieder versucht, den Pazifismusartikel 9 aus der Verfassung zu streichen oder zumindest abzuschwächen. Stets waren die innenpolitischen Hürden dafür zu hoch: Mal fehlten die nötigen Mehrheiten in den zwei Parlamentskammern. Als diese dann vorhanden waren, zeichnete sich ab, dass in einem Referendum die Mehrheit der Bevölkerung dagegen gestimmt hätte.

+++ Alle Entwicklungen zum Krieg gegen die Ukraine im Liveblog +++

„Über eine Verfassungsrevision spricht seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs niemand mehr“, sagt Ken Jimbo, Professor für internationale Politik an der renommierten Keio-Universität in Tokio. „Mittlerweile befürworten die meisten Parteien im Parlament eine Stärkung unserer Verteidigung.“ Man diskutiere seitdem eher über Details statt über Grundsätzliches. Und das funktioniert nun ganz ohne eine Verfassungsänderung. Ken Jimbo glaubt, die neue Ausrichtung sei auch verfassungskonform. Schließlich gehe es nur um Verteidigung.

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