Ist Habecks schnellerer Kohleausstieg ein Etikettenschwindel?
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Nordrhein-Westfalen, Jüchen: Ein Schaufelradbagger arbeitet im Braunkohletagebau Garzweiler.
© Quelle: Federico Gambarini/dpa
Liebe Leserinnen und Leser,
als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in dieser Woche nun den tagelangen Streit um längere Atomkraft-Laufzeiten innerhalb der Ampelkoalition mit einem schriftlichen Machtwort beendete, übersahen viele, dass es darin nicht nur um Atomkraft ging – sondern auch um deutschen Kohleabbau:
Scholz wies die Koalition an, die „politische Verständigung“ zwischen seinem Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), der schwarz-grünen Landesregierung von Nordrhein-Westfalen und dem Energiekonzern RWE „gesetzgeberisch umzusetzen“.
Bei diesem Punkt, den offenbar Habeck zur Bedingung für den Kompromiss gemacht hatte, geht es um den vorgezogenen Kohleausstieg in Nordrhein-Westfalen – den in der vorvergangenen Woche gleich mehrere grüne Minister stolz präsentiert haben. Doch was sieht der Deal genau vor, warum ist er umstritten – und was bringt er dem Klima wirklich? Darum geht es in unserem …
Faktencheck der Woche
Das Ringen um den Kohleausstieg in Deutschland zieht sich seit Jahren hin. Nachdem sich die Welt 2015 in Paris verpflichtet hatte, die Erderwärmung unter 2 Grad zu begrenzen, berechneten Wissenschaftler: Dafür wäre ein weltweiter Verzicht auf Kohle bis etwa 2030 notwendig.
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Die grünen Minister für Wirtschaft, Energie und Klimaschutz des Landes NRW, Mona Neubaur, und des Bundes, Robert Habeck, stellen ihren Kohledeal mit RWE vor.
© Quelle: IMAGO/Jens Schicke
Das brachte auch hierzulande neue Bewegung in die Verhandlungen zwischen Politik, Wirtschaft und Klimaschützern. Aber die überparteiliche und zudem mit Wissenschaftlern und Gewerkschaftern besetzte Kohlekommission konnte sich nur auf einen Ausstieg bis 2038 einigen, den Bundestag und Bundesrat gesetzlich festlegten. Innerhalb der Ampelkoalition setzten die Grünen nur durch, man wolle den Kohleausstieg „idealerweise“ auf 2030 vorziehen.
Zumindest für Nordrhein-Westfalen hat Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne) das nun gemeinsam mit seiner Parteifreundin und NRW-Amtskollegin Mona Neubaur geschafft – und mit dem Energiekonzern RWE einen entsprechenden Deal verhandelt. Doch von Klimaschützern und Wissenschaftlern gibt es daran Kritik. Zu Recht? Wir prüfen es.
Wie sieht die Vereinbarung zwischen Bund, NRW und RWE konkret aus?
Acht Jahre früher als geplant, bis 2030, will RWE die Verstromung von Braunkohle beenden. Drei Kraftwerksblöcke im rheinischen Revier gehen früher vom Netz. Statt der ursprünglich geplanten 560 Millionen Tonnen Braunkohle werde so im Tagebau Garzweiler nur noch die Hälfe abgebaut, 280 Millionen Tonnen. „Das ist ein Meilenstein für den Klimaschutz und hilft, die Klimaschutzziele zu erfüllen“, verkündete Habeck.
Zwei weitere Kraftwerke im nordrhein-westfälischen Neurath laufen dagegen mindestens bis März 2024 weiter, obwohl sie eigentlich Ende des Jahres abgeschaltet werden sollten – wegen der Energiekrise.
Luisa Neubauer fordert mehr Engagement der Grünen – und erntet Applaus
Beim Grünen-Parteitag in Bonn forderte die Fridays-for-Future-Aktivistin von ihrer Partei mehr Engagement in der Klima- und Umweltpolitik.
© Quelle: Reuters
Warum hat der Grünen-Parteitag am vorigen Wochenende darüber gestritten?
Die Grünen-Delegierten mussten sich scharfe Kritik anhören, etwa von Parteimitglied und Klimaaktivistin Luisa Neubauer. „Seit wann argumentieren die Grünen mit gefakten Zahlen von RWE?“, warf sie ihnen vor. In Wahrheit würde das Klima gar nicht profitieren: „Keine einzige Tonne CO₂″ werde gespart, wenn RWE die mit der Vereinbarung ermöglichte Auslastung aller Kraftwerke in den Zwanzigerjahren nutze.
RWE dürfe weiterhin 280 Millionen Tonnen Kohle abbauen. Keine 50 Millionen Tonnen dürften es dagegen sein, um das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten, so Neubauer.
Was bringt der vorgezogene Kohleausstieg in NRW dem Klima wirklich?
Dass durch den Deal 280 Millionen Tonnen CO₂ eingespart werden, bezweifeln auch Energieexperten – etwa Catharina Rieve vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW): „Für uns sind die 560 Millionen Tonnen als Bezugsgröße für eine Einsparung überhaupt nicht nachvollziehbar“, sagte die Ingenieurwissenschaftlerin dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Der Deal mit RWE führt so nicht dazu, dass das Klima gewinnt.“
Catharina Rieve vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW).
© Quelle: DIW
Die Forschungsgruppe hat berechnet: Gerade einmal 64 Millionen Tonnen weniger gelangen mit der neuen Vereinbarung im Vergleich zum Ausstieg 2038 in die Atmosphäre. Dieses Szenario setzt allerdings voraus, dass die Kraftwerke im Reservebetrieb unter Volllast bis 2033 weiterlaufen. Der RWE-Deal ermöglicht das.
Nimmt man dazu den möglichen vorgezogenen Ausstieg 2035 als Vergleichswert, ergibt sich nur noch ein Unterschied von sieben Millionen Tonnen CO₂. Das ist zwar nicht „keine einzige Tonne“, wie Neubauer behauptet – aber eben auch nicht die 280 Millionen Tonnen, von denen RWE und Regierung sprechen.
Wie kommen die unterschiedlichen Zahlen zustande?
Laut Rieve geht man bei den 280 Millionen Tonnen CO₂-Einsparung davon aus, dass die gesamte Braunkohle im Tagebaufeld Garzweiler noch verfeuert worden wäre. Dies sei aber technisch gar nicht möglich. Schon vor 2038 sinke der Kohlebedarf, weil die Abschaltung von Kraftwerken gesetzlich festgelegt ist.
Rieve und ihre Kollegen rechnen jedoch damit, dass in den verbleibenden acht Jahren der Kohleverbrauch steigt – um vom russischen Gas loszukommen. Allein die beiden nun verlängerten Kraftwerksblöcke in Neurath stoßen laut den Berechnungen der Wissenschaftler mehr als 20 Millionen Tonnen zusätzliches CO₂ aus, wenn sie in den Reservebetrieb bis 2025 gehen.
„Innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre wird Deutschland daher mehr Braunkohle verfeuern, als es dies sonst getan hätte“, sagt Rieve. Unter Umständen werde die gleiche Menge Kohle in kürzerer Zeit verbrannt.
Auf welche Zahlen beziehen sich die Ministerien?
Das bleibt diffus. Das Bundeswirtschaftsministerium verweist auf RND-Anfrage auf mehrere Gutachten, die Planungsbüros erstellt haben. Tatsächlich hat eines der genannten Büros 2020 die Folgekosten des Braunkohletagebaus in Deutschland berechnet. Das Gutachten bezieht sich auf Daten aus dem Jahr 2019. Je nach Szenario ist die Rede von 570 beziehungsweise 507 Millionen Tonnen Kohle, die aus dem Tagebau Garzweiler noch benötigt würden – vorausgesetzt, es gibt kein festes Ausstiegsdatum.
Für ein Kohleende im Jahr 2038 berechnen die Gutachter nur noch einen Bedarf von 460 Millionen Tonnen. Wie genau sich daraus die 280 Millionen Tonnen eingespartes CO₂ ergeben, beantwortet das Ministerium nicht.
Wie kommt RWE auf die 280 Millionen Tonnen CO₂-Einsparung?
Bis zum Kohleausstieg 2038 braucht RWE rund 900 Millionen Tonnen Kohle aus dem rheinischen Revier, das habe laut dem Unternehmen eine von ihm beauftragte Studie ergeben. Allein aus dem Tagebau Garzweiler müssten etwa 600 Millionen Tonnen kommen. Zieht man die in der verstrichenen Zeit geförderte Kohle ab, scheinen die genannten 560 Millionen Tonnen plausibel.
Ein Blick in die Studie zeigt jedoch: Der Bedarf ergibt sich aus teils fragwürdigen Annahmen. So gehen die Verfasser davon aus, dass die Energiepreise die kommenden Jahre auf geringem Niveau bleiben. Für das Jahr 2040 rechnen sie mit einem Erdgaspreis von 29 Euro pro Megawattstunde. Zum Vergleich: Aktuell ist der Preis etwa fünfmal so hoch. Auch der angenommene CO₂-Preis von 36 Euro pro Tonne im Jahr 2040 liegt mittlerweile bereits bei mehr als 60 Euro.
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Klimastreik in NRW: Auf der Landtagswiese in Düsseldorf demonstrieren Anhänger von Fridays for Future gegen Klimawandel und Kohleabbau.
© Quelle: IMAGO/Michael Gstettenbauer
Kann das 1,5-Grad-Ziel mit dem Kohleausstieg 2030 eingehalten werden?
„Der Kohleausstieg 2030 ist die Basis für RWE, ihren Reduktionsplan nun sogar auf den 1,5-Grad-Pfad anpassen zu können“, teilte das Unternehmen kurz nach der Einigung mit Habeck und Landesregierung mit. Man leiste einen maßgeblichen Beitrag dafür, dass Deutschland seine Klimaschutzziele erreichen kann.
Nur noch 200 Millionen Tonnen Kohle dürfte aus den Tagebauen Hambach und Garzweiler II ab Januar 2021 abgebaut werden, um das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten – zu dem Schluss kommt dagegen ein Gutachten des DIW, an dem auch Rieve mitgearbeitet hat. Das Klimaziel lasse sich demnach einhalten, wenn der Abbau 2028 endet.
Die von Neubauer genannten knapp 50 Millionen Tonnen Kohle dürften sich auf den Tagebau Garzweiler beziehen. Laut DIW hat RWE ab Anfang 2022 dort noch ein Budget von 47 Millionen Tonnen, um das Klimaziel einzuhalten.
Infografik der Woche
Der deutsche Plan, laut geltender Rechtslage bis 2038 aus dem Kohleabbau und -verbrauch auszusteigen, platziert die Bundesrepublik weit hinten auf der Skala der Ausstiegspläne innerhalb der EU.
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Kohleausstiegspläne der EU-Länder.
© Quelle: dpa
Verbrauchertipp der Woche
Fotovoltaikanlagen für den eigenen Haushalt sind nicht nur umweltfreundlich, sondern liefern noch dazu relativ günstigen Strom. Aber eben nur dann, wenn auch die Sonne scheint. Nachts und in den Wintermonaten liefern Solarpanels nicht genug Energie, sodass diese trotzdem über das Netz bezogen werden muss. An sonnigen Tagen wird hingegen mehr Elektrizität erzeugt, als ein einzelner Haushalt benötigt. Wie die überschüssige Energie gespeichert werden kann, und welche technischen Möglichkeiten sich tatsächlich rechnen, hat meine Kollegin Irene Habich aufgeschrieben.
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Solaranlagen auf Privathäusern werden immer beliebter.
© Quelle: Foto: Erich Häfele
Der RND-Klima-Podcast – hier hören
Mojib Latif zählt zu den renommiertesten internationalen Klimawissenschaftlern. In der neuen Folge des RND-Podcasts „Klima und wir“ spricht der Ozeanograph und Meteorologe über den Schutz der Weltmeere und warum es auch nach Jahrzehnten des Wissens nicht zu spät ist, den Einsatz für eine klimagerechte Erde aufzunehmen. Er verrät, woraus er Hoffnung zieht, und welchen Rat er an die junge Generation hat – auch wenn er das 1,5-Grad-Limit für verspielt hält.
Das Video der Woche – Fliegen versus Fahren
Ob man in den Urlaub fliegen sollte oder mit dem eigenen Auto einen Roadtrip macht, machen viele von der Kostenfrage abhängig. Wie sehr man das Klima mit dem eigenen Reisen belastet, sollte aber auch eine Rolle spielen.
Die gute Nachricht
90 Jahre lang glaubte die Wissenschaft, dass eine holzfressende Kakerlake, die zu den vielen, teils mysteriösen Lebewesen der australischen Insel Lord Howe gehörte, ausgestorben sei. Bis ein Student vor Kurzem einen Stein hochhob, schreibt unsere Australien-Korrespondentin Barbara Barkhausen.
Es sei eine „großartige Nachricht“, dass die Tiere überlebt hätten, meinte Atticus Fleming, ein Vertreter der Inselbewohner. Lord Howe Island sei ein wirklich „spektakulärer Ort“. „Es ist älter als die Galapagosinseln und beherbergt 1600 einheimische wirbellose Arten, von denen die Hälfte nirgendwo sonst auf der Welt zu finden ist“, sagte Fleming.
Aktuelle Hintergründe
Bild der Woche
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Menschen paddeln in Bayelsa, Nigeria nach heftigen Regenfällen mit ihren Kanus durch überschwemmte Wohnstraßen. Die Zahl der Toten und Verletzten durch Überschwemmungen in Afrika steigt weiter dramatisch an. Zuletzt sagte die nigerianische Ministerin für humanitäre Angelegenheiten, die Zahl der Menschen, die in den vergangenen Wochen in den Fluten ums Leben kamen, sei auf über 600 gestiegen. Rund 2400 Menschen wurden außerdem verletzt, 1,3 Millionen Menschen mussten ihre Heimat verlassen.
© Quelle: Reed Joshua/AP/dpa
Termine der Woche
Montag, 24. Oktober: Die 41. Konferenz der Antarktiskommission CCAMLR beginnt. Bei dem zwölftägigen Treffen geht es um die Einrichtung wichtiger Meeresschutzgebiete im Südpolarmeer. Das Vorhaben wurde bisher immer von China und Russland blockiert. Das „Übereinkommen über die Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis“ wurde 1980 ins Leben gerufen. Der Kommission gehören 25 Staaten und die EU an.
Mittwoch, 26. Oktober: Die Vereinten Nationen stellen vor Beginn der Weltklimakonferenz in Ägypten ihren Bericht zu den Klimaschutzplänen einzelner Länder vor. Der letzte Bericht aus dem Herbst 2021 war ernüchternd ausgefallen. Vom UN-Klimasekretariat hieß es damals, dass die Nationen „ihre Klimaanstrengungen dringend verdoppeln müssen“, wenn sie einen globalen Temperaturanstieg über 1,5 Grad bis zum Ende des Jahrhunderts verhindern wollen. Um das Ziel zu erreichen, müssten bis Ende dieses Jahrzehnts die Treibhausgas-Emissionen laut UN um 45 Prozent im Vergleich zu 2010 gesenkt werden. Die Zahlen vom vergangenen Herbst jedoch deuteten darauf hin, dass der Ausstoß 2030 um etwa 16 Prozent höher wäre als 2010.
Donnerstag, 27. Oktober: Die Internationale Energieagentur (IEA) legt ihren Jahresbericht vor. Darin untersucht die IEA unter anderem, ob die Energiekrise einen Rückschlag für die Umstellung auf saubere Energien bedeutet oder ein Katalysator dafür ist. Außerdem geht es um Risiken für die Energiesicherheit auf dem Weg zu Netto-Null-Emissionen.
In vielen Bundesländern stehen jetzt die Herbstferien vor der Tür – in der Heizperiode stecken wir ja schon. Für die Energiepolitik – und damit auch für die Klimapolitik – bleiben die Zeiten aber so oder so spannend. Wir halten Sie auch nächste Woche wieder mit dem Klima-Check-Newsletter auf dem Laufenden.
Falls Sie Anregungen oder Kritik haben, melden Sie sich gern direkt bei unserem Redaktionsteam: klima@rnd.de Wir freuen uns auf Ihr Feedback!
Nachhaltige Grüße,
Ansgar Nehls und Elena Everding
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