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100 Tage rechts-religiöse Regierung

Ein Land in Aufruhr: So ist die Lage in Israel seit der Wiederwahl Benjamin Netanjahus

Israelische Polizisten stehen während des dritten Freitags im Ramadan vor der Mauer des Al-Aqsa-Geländes Wache.

Israelische Polizisten stehen während des dritten Freitags im Ramadan vor der Mauer des Al-Aqsa-Geländes Wache.

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Tel Aviv. Als Netanjahu Ende Dezember erneut Ministerpräsident wurde, gab er an, „Ordnung wiederherstellen“ zu wollen. Die Lebenshaltungskosten müssten gesenkt, der Iran von einer nuklearen Bewaffnung abgehalten und weitere arabische Länder als Partner gewonnen werden. Rund 100 Tage später sind diese Vorhaben weit in den Hintergrund gerückt. Seit Monaten erschüttert Israel eine Welle von Protesten gegen eine umstrittene Justizreform von Netanjahus neuer rechts-religiösen Regierung. Im Schnellverfahren sollte sie durchgeboxt werden. Das Ziel: Die Schwächung der unabhängigen Justiz.

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Gegner warnen vor einem Ende der Demokratie, manche gar vor der schleichenden Einführung einer Diktatur. Dem Parlament soll es den Plänen nach etwa künftig möglich sein, mit einfacher Mehrheit Entscheidungen des Höchsten Gerichts aufzuheben. Zudem sollen Politiker erheblichen Einfluss bei der Ernennung von Richtern erhalten.

Das umstrittene Gesetzesvorhaben wurde nun für wenige Wochen auf Eis gelegt, um über einen Kompromiss zu verhandeln. „Der Schaden ist jedoch angerichtet“, sagt Politikwissenschaftlerin Gail Talschir von der Hebräischen Universität in Jerusalem. Die gesellschaftliche Spaltung sei größer denn je, die Wirtschaft angeschlagen und wichtige Verbündete im Kampf gegen den Iran auf Distanz.

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Ob Netanjahu damit gerechnet habe? „Nicht in diesem Ausmaß - er hat es aber für seine Zwecke in Kauf genommen.“ Dabei verweist Talschir auf einen aktuell gegen den Regierungschef laufenden Korruptionsprozess - und dessen rechtsextremen Koalitionspartner, die dem 73-Jährigen Ende Dezember zurück auf die politische Bühne halfen.

Israelische Demonstranten protestieren in Tel Aviv gegen die Pläne der Regierung, das Justizsystem zu reformieren. (Archivbild)

Israelische Demonstranten protestieren in Tel Aviv gegen die Pläne der Regierung, das Justizsystem zu reformieren. (Archivbild)

Rechtsextremisten geben den Ton an

Bereits im Wahlkampf warnten Experten vor radikalen Reformen und Konsequenzen für Israels Demokratie, sollte Netanjahu mit den ultrarechten Partnern koalieren. International betonte Netanjahu immer wieder, dass er seine Minister vom äußerten rechten Rand im Griff habe. „Sie schließen sich mir an. Ich schließe mich nicht ihnen an“, sagte er noch in einem US-Interview im Dezember. Nach vier Monaten an der Macht zeichnet sich ein anderes Bild. „Sie geben den Ton an“, sagt Talschir.

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Bereits kurz nach der Amtsübernahme sorgte sein rechtsextremer Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir mit einem umstrittenen Besuch auf dem Tempelberg in Jerusalem für internationales Aufsehen. Wenige Wochen später musste sich Finanzminister Bezalel Smotrich dafür erklären, dass er das „Ausradieren“ einer palästinensischen Stadt gefordert hatte. Und auch sein Auftreten vor einer „Groß-Israel-Karte“, die Jordanien mit einschloss, ließ internationale Verbündete aufhorchen.

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International im Abseits?

Wie angeschlagen Israel auf der internationalen Bühne ist, zeigte sich vergangene Woche. Der „besorgte“ US-Präsident Joe Biden weigerte sich öffentlich, Netanjahu ins Weiße Haus einzuladen. „Nicht in nächster Zeit“, sagte er vor laufender Kamera. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz und der französische Präsident Emmanuel Macron machten deutlich: So kann es nicht weitergehen. „Eine Blamage für Netanjahu“, werteten Beobachter.

Im Kampf gegen den Iran ist er auf seine Verbündeten angewiesen. Aber auch, um die Beziehungen zu weiteren arabischen Staaten zu normalisieren - eines seiner großen Wahlkampfversprechen. Erst am Donnerstag verkündeten der Iran und Saudi-Arabien weitere Schritte in der Wiederannäherung ihrer Beziehungen. Ein schwerer Schlag für den Regierungschef, sagen Experten.

Auch an anderen Stellen kehrte in den vergangenen Monaten keine Ruhe ein. Die Lage im Westjordanland ist so explosiv wie lange nicht mehr. Am Donnerstag stand Israel unter dem heftigsten Beschuss aus dem Libanon seit Jahren. Kurz darauf holte Israel zum Gegenschlag aus - und attackiert Ziele der Hamas im Nachbarland und im Gazastreifen. Am Freitagabend sind bei einem mutmaßlichen Anschlag in der israelischen Küstenstadt Tel Aviv ein italienischer Tourist getötet und sieben weitere Touristen verletzt worden.

Israel reagiert auf Hamas-Angriffe: Gazastreifen und Südlibanon mit Raketen bombardiert

Die israelische Armee hatte darauf reagiert, dass die Hamas 34 Raketen vom Libanon aus auf den Norden Israels abgefeuert habe.

Allein seit Jahresbeginn wurden 16 Israelis und eine Ukrainerin bei Anschlägen getötet. Im gleichen Zeitraum kamen mehr als 91 Palästinenser ums Leben - die meisten davon bei Zusammenstößen mit der israelischen Armee. Das sind so viele, wie noch nie zuvor in den ersten Monaten eines Jahres.

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Auch jüngste Konfrontationen zwischen der Polizei und palästinensischen Gläubigen auf den Tempelberg in Jerusalem schüren Sorgen vor einer neuen gefährlichen Eskalation mit der im Gazastreifen herrschenden Hamas sowie dem Nachbarland Libanon.

Israels Sicherheit in Gefahr?

„Die Bedrohungen sind auf allen Seiten groß“, sagte zuletzt auch Verteidigungsminister Joav Galant, als er sich für ein Aussetzen der Justizreform aussprach. Sollte das Vorhaben in der jetzigen Form fortgeführt werden, werde die nationale Sicherheit schweren Schaden nehmen. In der Armee hatte sich massiver Widerstand gegen die Reform gebildet, aus Protest waren Hunderte Reservisten nicht mehr zum Dienst erschienen. Für seine Warnung wurde Galant von Netanjahu entlassen, ein offizielles Entlassungsschreiben steht noch aus.

„Wenn ein Land geschwächt ist, reiben sich die Feinde die Hände“, sagt Netanjahus früherer Berater Aviv Buschinsky. Zuletzt zielte der Chef der libanesischen Hisbollah-Miliz, Hassan Nasrallah, in einer Rede auf Israels „interne Spannungen“ ab. Die israelische Zeitung „Jediot Achronot“ titelte hinterher: „Nasrallah riecht Schwäche“. Ein paar Wochen später schleuste die vom Iran unterstützte Organisation einen schwer bewaffneten Mann nach Israel.

Netanjahu beschwichtigt: Die interne Debatte ändere nichts an Israels Fähigkeit, „an allen Fronten gegen unsere Feinde vorzugehen, wo und wann immer es nötig ist“. Ob ihm dies gelingt, hänge auch vom Ausgang der Justizreform ab, sagt Talschir. „Ohne ausreichend Soldaten lässt sich kein Krieg gewinnen“.

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RND/dpa

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