Internationale Presse zur Bundestagswahl: „Die Ergebnisse sind ein Kuddelmuddel“
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Stapel Zeitungen (Symbolbild)
© Quelle: picture alliance / Bildagentur-o
Berlin. Nach dem vorläufigen Ergebnis der Bundestagswahl ist die SPD um Kandidat Olaf Scholz stärkste Kraft. Die Union dagegen verzeichnet unter Kandidat Armin Laschet historische Stimmverluste. Dennoch erheben beide nun Anspruch auf das Kanzleramt. Sicher ist, dort sitzt bald erstmals seit 16 Jahren nicht mehr Angela Merkel. Vor allem ein Ampel-Bündnis aus SPD, Grünen und FDP sowie eine Jamaika-Koalition aus CDU, Grünen und FDP zeichnen sich nun als mögliche Regierungsoptionen ab. Die internationale Presse kommentiert den Ausgang der Wahl divers. Viele nehmen auch das Ausscheiden Merkels in den Blick.
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Zum Ausgang der Bundestagswahl schreibt das „Wall Street Journal (USA)“: „Die deutschen Wähler haben am Sonntag gesprochen, und nun müssen sie wochenlang warten, bis ihnen jemand sagt, was sie gesagt haben. Die Ergebnisse sind ein Kuddelmuddel, und eine komplexe Koalitionspolitik wird darüber entscheiden, welchen Weg das Land nach der Ära Angela Merkels einschlägt. (...)
Wer immer auch am Ende das Sagen hat, Berlin steht vor ernsthaften Herausforderungen, wenn es darum geht, produktive Investitionen und Innovationen im eigenen Land anzukurbeln, große Migrantenströme zu bewältigen, auf die zunehmenden strategischen Bedrohungen aus China und Russland zu reagieren und gute Beziehungen zu den Nachbarn sowie den USA zu pflegen.
Während Deutschland sich auf langwieriges Koalitionsgerangel einstellt, kann man kaum den Schluss vermeiden, dass Parteien und Wähler einen statischen Status quo einer klaren Neuausrichtung vorziehen.“
Die Londoner „Times“ kommentiert das Ende der Ära Merkel: „Das Beste, was man über ihre Art der Staatsführung sagen kann, ist, dass sie geholfen hat, Europa durch eine Reihe von Krisen zu steuern. Insbesondere war sie maßgeblich daran beteiligt, in nächtlichen Gipfeltreffen eine Reihe von Rettungspaketen zu schnüren. (...)
Trotz all ihrer Schwächen verlässt sie ihr Amt nach 16 Jahren mit einer Zustimmungsrate, um die sie jeder Regierungschef der Welt beneiden würde. Viele werden ihren sturen, rationalen Pragmatismus vermissen, nicht zuletzt, wenn die nächste Krise kommt. Ihr vielleicht größtes Vermächtnis ist, dass sie den Aufstieg Deutschlands nach der Wiedervereinigung zu einer unbestrittenen Vormachtstellung in Europa geleitet hat, doch die Partner des Landes in der ganzen Welt wünschten sich eine stärkere deutsche Führung. Leider gibt es kaum Anzeichen dafür, dass ihr Nachfolger dies tun wird.“
Zur Bundestagswahl meint die britische Sonntagszeitung „The Observer“: „Es ist nicht zu erwarten, dass eine Partei eine Mehrheit im Bundestag erlangt. Koalitionsgespräche zur Bildung einer neuen Regierung könnten Monate dauern. In der Zwischenzeit bleibt (Angela) Merkel praktisch im Amt. Die Ungewissheit darüber, wer sie ersetzen wird, ist eine große Veränderung im Vergleich zu der oft vorhersehbaren Politik der vergangenen 16 Jahre. Aber man sollte darüber nicht allzu begeistert sein.
Weder Olaf Scholz, der die SPD, die größte Mitte-Links-Partei, anführt, noch Armin Laschet, Merkels konservativer Wunschkandidat für die Nachfolge der CDU, bieten radikal unterschiedliche Programme an. Beide Männer betonen die Kontinuität, während sie für bescheidene, schrittweise Veränderungen eintreten. Dies ist ein Problem. Im Wahlkampf sind wichtige Themen deutlich geworden, die während der Ära Merkel ignoriert wurden.“
„Merkels Bilanz ist glanzvoll“
Die spanische Zeitung „El País“ kommentiert am Tag der Bundestagswahl das Ende von 16 Jahren Kanzlerschaft Angela Merkels: „Seit vier Amtszeiten und 16 Jahren prägt sie die Politik mit ihrem nüchternen, pragmatischen Stil und ist dabei zugleich nah am Alltag ihrer Landsleute geblieben. Aber sie hat noch aus anderen Gründen globale Statur erlangt. Indem sie sich ständig an der politischen Mitte orientierte, betrieb sie abseits der Extreme fast immer eine vernünftige Politik.
Mit dieser Flexibilität, die in der spanischen Innenpolitik eher als Inkonsequenz und Opportunismus kritisiert würde, führte sie Koalitionsregierungen mit unterschiedlichen Partnern: dreimal Sozialdemokraten, einmal Liberale. Auf diese Weise errichtete sie auch eine Brandmauer gegen den ultrarechten Populismus. Diese Reise beinhaltete auch die Suche nach einem politischen Schwerpunkt, der Werte und Interessen, die Nation und die EU, das Nationale und das Globale, die Wirtschaft und das Soziale vereint.
Merkels Bilanz ist glanzvoll und sie hat die Gleichung von Deutschland als einem wirtschaftlichen Riesen und einem politischen Zwerg endlich aufgelöst. Es ist zwar noch Luft nach oben, aber auch in diesem Bereich ist es Merkel gelungen, Deutschland zu einer Lokomotive zu machen.“
Zur Bundestagswahl meint die niederländische Zeitung „de Volkskrant“ am Samstag: „Merkels Politik war in der Welt nach dem Fall der Mauer verwurzelt. Einer Welt, die nicht mehr existiert. Eine neue Ära erfordert jedoch eine neue Ausrichtung. Für ein Deutschland, das mehr in seine Infrastruktur und in seine Menschen investiert. Ein Land, das sich weniger von Handelsinteressen als vielmehr von der Notwendigkeit europäischer geopolitischer Autonomie in einer immer unsicherer werdenden Welt leiten lässt.
Ob Deutschland nach Merkel mit dem ‚Merkelismus‘ brechen wird, ist sehr fraglich. Der Wahlkampf stand nicht im Zeichen großer Veränderungen. Wahrscheinlich wird die nächste Koalition aus sehr unterschiedlichen Parteien bestehen, die sich gegenseitig neutralisieren. In diesem Fall wird Deutschland weiterhin eine Politik à la Merkel betreiben, aber mit einem Kanzler, der weniger Erfahrung und Format hat.“
Die sozialdemokratische Budapester Tageszeitung „Nepszava“ kommentiert das Ausscheiden Angela Merkels aus der Politik: „Sie war nicht allmächtig. Mit den ‚Illiberalen‘ (in Europa) vermochte sie nichts anzufangen. Obwohl sie selbst lange Zeit hinter dem Eisernen Vorhang gelebt hatte, war sie unfähig zu begreifen, wie Ungarn und Polen dazu imstande sind, all das zu zerstören, wofür die beiden (ex-kommunistischen) Länder so lange gekämpft hatten. (...) Dennoch besteht kein Zweifel, dass sie eine große Leere hinterlässt, egal, ob der nächste Kanzler Armin Laschet oder Olaf Scholz heißen wird. Deutschland darf sich jedoch von Merkels Erbe nicht abwenden. Die EU steht weiterhin vor enormen Herausforderungen. Ohne Berlin sind sie nicht zu bewältigen.“
Laschet in schwacher Verhandlungsposition
Zu möglichen Regierungskoalitionen nach dem Absturz von CDU/CSU meint die „Neue Zürcher Zeitung“ am Montag: „Aus liberaler Perspektive könnte man versucht sein, das Jamaica-Modell der SPD-geführten Ampel vorzuziehen. Union und FDP wollen schließlich beide einen effizienteren Staat und weniger Bürokratie für die Wirtschaft, und beide haben Steuererhöhungen ausgeschlossen. Bei der Ampel könnten zwei linke Parteien, die für das Gegenteil stehen, die Liberalen in die Zange nehmen. (...)
Wer weiß, vielleicht kommt Olaf Scholz der FDP am Ende so weit entgegen, dass die Kompromisse in der Summe mehr überzeugen als das, was Armin Laschet mit den Grünen aushandeln könnte.
Denn so viel steht fest: Annalena Baerbocks Traum vom Kanzleramt mag implodiert sein, aber das Ergebnis ihrer Partei ist laut den bisherigen Hochrechnungen so stark wie nie. Ihre Parteibasis wird entsprechende Erwartungen an sie und Robert Habeck haben, einen Koalitionsvertrag auszuhandeln, der so grün ist wie keiner zuvor. Und wenn einer in einer schwachen Verhandlungsposition ist, dann Armin Laschet, der seiner Partei voraussichtlich das schlechteste Wahlergebnis der Geschichte eingebrockt hat.“
Zu möglichen Regierungskoalitionen nach der Bundestagswahl schreibt der Zürcher „Tages-Anzeiger“ am Montag: „Viele Deutsche wissen, dass das Land vor großen Herausforderungen steht. Scholz stellte einen Wandel in Aussicht, der den Menschen so wenig wie möglich abverlangt – wie bei Angela Merkel eben.
Seine Chancen sind nun intakt, als vierter Sozialdemokrat nach Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder Kanzler zu werden. Einfach wird es nicht, aber dem exzellenten Verhandler Scholz ist es zuzutrauen, FDP und Grüne von einer neuartigen Mitte-Koalition zu überzeugen. (...)
Deutschland nähert sich der parlamentarischen Realität in anderen europäischen Demokratien an: Siege mit 25 Prozent der Stimmen, dahinter mehrere mittelgroße Parteien, die immer buntere Koalitionen bilden. Deutschland muss sich an diese Unübersichtlichkeit erst gewöhnen.“
Zum Ende der Ära Merkel heißt es in der Schweizer „Sonntagszeitung“: „Die Merkel-Raute, dieses Symbol neudeutscher Bescheidenheit, ist auch ein Symbol für einen Triumph des Reputationsmanagements. Vielleicht gelang ihr deshalb dieses Kunststück, weil Bescheidenheit sonst nicht die erste Eigenschaft ist, die uns Nicht-Deutschen einfällt, wenn wir an die Deutschen denken. Und sie selbst verliebten sich in diesen Rauten-Nationalismus – der zu belegen schien, neuerdings ganz klein, ganz selbstlos, ganz anders als in der ferneren Vergangenheit zu sein. (...)
Wir wissen, dass Deutschland ein ungefährliches Land ist; viel gefährlicher ist es, wenn es alles tut, um ungefährlich zu wirken. Weltmeister in der Klimarettung, Weltmeister in der moralischen Politik, Weltmeister in der Aufopferung für die EU.
Merkel tritt ab. Was bleibt? Das Staunen. Ihre Partei, die CDU: ruiniert, selbst wenn sie am Sonntag noch gewinnen sollte. Das Land? Müde, wenn nicht depressiv. Seine Wirtschaft: brummt, als wäre nichts geschehen. Wenn wir Schweizer die Deutschen für etwas bewundern, dann dafür: dass sie noch jedes Regime tüchtig überstanden haben.“
Wichtigster politischer Kampf steht erst bevor
Zum Ausgang der Bundestagswahl schreibt die russische Regierungszeitung „Rossijskaja Gaseta“ am Montag:
„Zwei Kanzlerkandidaten auf einmal – Olaf Scholz von der SPD und Armin Laschet von der CDU – traten triumphierend vor ihre Anhänger und bekundeten ihre Bereitschaft, die künftige Regierung zu führen. Bisher gibt es kaum Zweifel an einem Punkt: Deutschland wird eine Dreier-Koalition auf Bundesebene erhalten. Tatsächlich steht der wichtigste politische Kampf erst noch bevor. (...) Und viele Experten glauben, dass es wirklich früh ist, Laschet abzuschreiben. Zugleich erklärte der sozialdemokratische Kandidat selbstbewusst: „Die Bürger wollen, dass der neue Kanzler Olaf Scholz heißt.““
Zum Ergebnis der Bundestagswahl meint die belgische Zeitung „De Tijd“ am Montag: „Nach der letzten Bundestagswahl dauerte es fast sechs Monate, ehe in Deutschland eine neue Regierung auf die Beine gestellt wurde. Ein solches Szenario würden die Parteien dies mal gern vermeiden, doch die Karten sind ebenso schwierig verteilt wie damals. (...)
Da Angela Merkel jetzt nicht mehr dabei ist, gerät auch Deutschland in eine instabile Phase. Es wird ein Neustart gebraucht, der eine neue Stabilität ermöglicht. Das ist eine schwierige Aufgabe, denn die Wähler in Deutschland scheinen ebenso launenhaft geworden zu sein wie jene im Rest Europas.
Eine baldige Koalitionsbildung in Deutschland – mit welchen Farben auch immer – wäre für Europa das beste Zeichen für Sicherheit. Doch für die angestrebte Stabilität gibt es keine Garantie. Auch in Deutschland scheint der Konsens verloren gegangen zu sein. Und das ist keine gute Nachricht – weder für Deutschland, noch für den Rest Europas.“
RND/dpa