„Ich habe immer Angst, wenn es regnet“: Erftstadt vier Monate nach der Flut
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Eine Abbruchkante am Rande der Kiesgrube in Erftstadt-Blessem. In Erftstadt tat sich in der Nacht zum 15. Juli die Erde auf und verschlang mehrere Häuser.
© Quelle: Oliver Berg/dpa
Dabei waren sie doch schon so weit gekommen. Sogar die Tapete war schon wieder an der Wand. Raufaser, weiß, alles neu, angeklebt von Helfern irgendwo aus Süddeutschland, in den ersten Wochen waren ja so viele da. Waltraud und Günter Groten dachten also, sie könnten bald wieder hinein, könnten wieder nach Hause. Aber dann, Anfang Oktober, stand sie eines Tages in ihrem Wohnzimmer und bemerkte einen eigenartigen Geruch.
„Da ist etwas“, sagte sie zu ihrem Mann. „Kann nicht sein“, antwortete er. Aber dann roch er es auch. Heizöl. Der schwere, alles überstrahlende Geruch von Heizöl.
Jetzt, fünf Wochen später, stehen die Grotens wieder in ihrem Wohnzimmer. Das untere Drittel der Wand fehlt, drei Lagen Bimsstein hat Günter Groten herausgestemmt. Bimsstein ist porös, er hatte das Heizöl-Wasser-Gemisch aufgesogen, genau wie die Dämmwolle dahinter.
„Auswringen konnte man die“, sagt Waltraud Groten heute. Ihr Mann hat eine schwarze Folie hinter das Loch gespannt, dorthin, wo ihr Haus an das des Nachbarn grenzt, nun will er neue Steine setzen lassen.
„Wir leben in der Hoffnung, dass es dann aufhört“, sagt Günter Groten. Dass der Gestank also verschwindet. Aber mehr als eine Hoffnung ist das bislang nicht.
Waltraud und Günter Groten lebten seit 52 Jahren in diesem Haus in der Radmacherstraße in Erftstadt-Blessem. Ein älteres Paar, 78 und 79 Jahre, beide von ähnlich schmaler Statur, klein gewachsen, sie früher Friseurin, er im Hochbau. Günter Groten hat dieses Haus selbst hochgezogen. „Viereinhalb Jahre, 10.000 Ziegel“, sagt er.
Die Nachbarhäuser verschwanden im Krater
Darin haben sie gewohnt, bis zu jener Nacht Mitte Juli, in der sich die Erft, sonst ein schmales Flüsschen, in einen mächtigen Strom verwandelte. Auf einmal war ihr Haus nicht mehr eines von vielen an der Straße Richtung Burg – sondern das vorletzte vor einem gewaltigen, zehn Meter tiefen Krater.
An jenem Abend, am 14. Juli, strömt das Wasser bereits die Straße hinunter, als Günter Groten abends ins Bett geht. Er hat kein Evakuierungssignal gehört, wie auch sonst niemand in Blessem. Als er morgens um halb fünf aufwacht und aus dem Fenster sieht, nach hinten, ist sein Garten zur Hälfte verschwunden. Der Taubenschlag, die alten Bäume, alles versunken in einem mächtigen Loch.
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Günter und Waltraud Groten, Betroffene der Flutkatastrophe von Erftstadt-Blessem
© Quelle: Thorsten Fuchs
Dann sieht er vorne aus dem Fenster, wo die Nachbarhäuser verschwunden sind, drei Häuser einfach weg, und das Wasser strömt in diesen Krater. Günter Groten sieht Blumenkübel, Kanthölzer, den Strandkorb des Nachbarn, wie sie in das Loch treiben.
„Ich dachte: Mein Gott, hier ist ja ein Wasserfall“, sagt Günter Groten. „Wir konnten nicht nach vorne, nicht nach hinten.“
„Mir war klar: Wenn uns keiner rausholt, müssen wir sterben“, sagt Waltraud Groten. Aus dem Fenster klettern sie auf das Dach der Garage. Um viertel vor sechs am Morgen rettet sie von dort ein Hubschrauber. Als Waltraud Groten hochgezogen wird, brechen bei ihr fünf Rippen. „Bis heute“, sagt sie, „spüre ich die Schmerzen.“
An jenem Morgen wird der Krater von Blessem zum Symbol der Flutkatastrophe an Ahr und Erft. Die Bilder, die Fotografen von dem gewaltigen Krater machen, erzählen der Welt vom Ausmaß der Katastrophe. Am nächsten Tag ist Blessem auf der Titelseite der „New York Times“. Und damit auch das Haus der Grotens.
Was in jener Nacht kaputtgegangen ist, das kann Günter Groten schwer beziffern. Es gibt Dinge, die lassen sich in Geld messen, in einer Summe. Die neue Heizung zum Beispiel, die die Grotens vor Kurzem einbauen ließen, und die Fotovoltaikanlage, deren einer Teil auf dem Dach von der Flut verschont blieb, während der Speicher im Keller unterging. „Da waren allein schon 20 Mille weg“, sagt Groten.
Und dann gibt es das, was sich durch Geld nicht ersetzen lässt. Günter Groten hat sein ganzes Leben an diesem Rand von Blessem verbracht, sein Elternhaus steht schräg gegenüber. Das Grundstück, auf dem er gebaut hat und das die Flut nun abgegraben hat, war ein Geschenk seiner Großmutter.
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Günter Groten, Betroffener der Flutkatastrophe von Erftstadt-Blessem, auf seinem Grundstück.
© Quelle: Thorsten Fuchs
Als er dreieinhalb Wochen nach der Flut das Haus zum ersten Mal wieder betreten darf, sind Keller und Erdgeschoss verwüstet, mit dem Garten, seiner Heimaterde, ist auch sein Taubenschlag verschwunden. 86 Tauben waren darin, 19 haben überlebt, wird er später zählen. „Keine Ahnung, wie die da rausgekommen sind.“ Er war mit seinen Tauben auf Wettbewerben, sogar aus Südfrankreich haben sie zurückgefunden. „Eigentlich war es ein gutes Jahr“, sagt er, während er von ihnen erzählt, und korrigiert sich dann: „Also: was die Tauben angeht.“
Die Flut nahm das alte Leben weg
Die Grotens sind bei einer Bauernfamilie untergekommen, elf Kilometer von hier. „Mein altes Leben“, sagt Waltraud Groten, „ist in jener Nacht den Bach runtergegangen.“
Wer heute durch Blessem geht, den erinnert wenig an die Flut. Da sind die roten Kreuze an den Mauern, mit denen die Feuerwehr am Morgen markierte, welche Häuser evakuiert sind. Alle paar Dutzend Meter noch Container für Schutt und alte Möbel. Besser sieht man die Folgen der Flut abends. Dann bleiben im Erdgeschoss überall die Lichter aus. Weil sie leer sind, noch unbewohnbar.
Gerd Schiffer ist seit wenigen Tagen Wiederaufbaukoordinator der Stadt, aber einen genauen Überblick über die Schäden hat auch er noch nicht. Was er weiß, ist, dass die 19 Millionen Euro, die sie anfangs allein für die städtischen Gebäude veranschlagt haben, hinten und vorne nicht reichen werden.
Und er weiß, was ihm die Blessemer berichten, wenn er im Ort unterwegs ist, von Haus zu Haus geht: dass Handwerker und Gutachter schwer zu bekommen sind. Und dass der Antrag für die staatlichen Hilfen gerade für Ältere bei Weitem nicht so unbürokratisch zu stellen war, wie es die Politik anfangs versprochen hatte.
Auch die Grotens mussten ihn online stellen. „Dabei“, sagt Waltraud Groten, „hatten wir nicht mal eine E-Mail-Adresse.“ Von der Stadt bekamen sie erst mal gut 2000 Euro Soforthilfe. Die Mailadresse lieh ihnen ihr Sohn. Jetzt warten sie.
Aber das Geld, das ist ohnehin nur das eine, was die Blessemer umtreibt. Das andere ist die Angst, dass so etwas noch einmal passiert. Dass niemand Konsequenzen zieht.
Wo vor vier Monaten der Krater war, da fahren jetzt schwere Bagger und Lkw. Nahe dem Ort ist das Loch schon aufgefüllt, und der Wiederaufbauchef Schiffer erzählt von der Auenlandschaft, die dort jetzt entstehen soll, und dem Damm, der die Blessemer künftig schützen soll. Aber auch er sagt: „Die Bedenken der Bevölkerung sind natürlich nachzuvollziehen.“
Ich habe immer Angst, wenn es regnet.
Waltraud Groten,
Betroffene der Flutkatastrophe in Blessem
Diese Bedenken speisen sich aus dem Trauma, das Blessem in jener Nacht erlitten hat. „Ich habe immer Angst, wenn es regnet“, sagt Waltraud Groten. Eine Mutter, dass ihre beiden Kinder, acht und neun, inzwischen in psychologischer Behandlung sind. In jener Nacht erlebten sie mit, wie ihre Eltern hektisch alles aus dem Keller in den ersten Stock schafften, während das Wasser durch die Fenster und die Kellertreppe hinabrauschte. „Zu Weihnachten haben sie sich jetzt ein Boot gewünscht, um uns jederzeit retten zu können“, sagt sie.
Und dann hörte sie noch, wie ihre Tochter den Hund, der sich bei einem Geräusch erschreckt hatte, mit den Worten „Du brauchst keine Angst zu haben, es ist kein rauschendes Wasser“ tröstete.
Widerstand gegen die Kiesgrube
Auch deshalb ist die große Frage, ob die Blessemer wieder Frieden finden werden, wenn die Grube wieder betrieben wird.
Die Kiesgrube am Rand des Ortes gilt vielen als Ursache für den Krater von Blessem. An jenem Morgen, so zeigen es Videoaufnahmen, bricht die Erft in diese Grube, ergießt sich wie ein Wasserfall hinein und frisst sich dann auf der anderen Seite durch Äcker und Häuser immer weiter an den Ort heran.
Was genau geschehen ist, wer Schuld trägt, alles das ist jetzt Sache der Justiz. In dem Verfahren „Havarie Kiesgrube“ dauerten die Ermittlungen gegen unbekannt „wegen Baugefährdung“ an, erklärt die Staatsanwaltschaft Köln. Es seien mehrere Experten gehört worden, die Bezirksregierungen Köln und Arnsberg hätten Unterlagen geschickt. Fotos würden untersucht, Zeugen vernommen.
Für die meisten Blessemer allerdings steht das Urteil längst fest. „Keine Kiesgrube mehr in Blessem!“, so steht es auf den gelben Plakaten, die sie an vielen Häusern aufgehängt haben. Es stört sie, dass als Erstes ein Damm errichtet wurde, der nun die Kiesgrube schützt, keiner aber für sie.
„Es wirkt, als sei die Kiesgrube wichtiger als die Bewohner von Blessem“, sagt Karl Berger, der Vorsitzende des Bürgerforums, der selbst nach der Flut noch im leeren Erdgeschoss seines Hauses sitzt. Und auch der Bürgermeister Reiner Dreschmann fordert, „dass das Symbol der Jahrtausendkatastrophe aus dem Ortsbild von Blessem verschwindet“.
Am Ende aber sind sie alle machtlos. Betreiber der Grube sind die Rheinischen Baustoffwerke, eine Tochter von RWE. Ein Weiterbetrieb sei nur möglich und sinnvoll, „wenn er sich im Rahmen eines abgestimmten, akzeptierten Gesamtkonzepts für den langfristigen Schutz der Ortslage vor Hochwassern bewegt“, versichert das Unternehmen auf Anfrage. Entschieden sei noch nichts.
Günter Groten traut der Sache dennoch nicht. „Ich habe so ein Gefühl, als wär die Grube noch nicht tot“, sagt er.
Trotzdem will er zurück, in sein Haus. Lieber heute als morgen. Er war bei der Polizei, als Zeuge. Da hat er seine Geschichte noch mal erzählt. Jetzt wartet er. Darauf, dass der Gestank des Heizöls verschwindet.
Seine Tauben wohnen schon wieder in Blessem. Im neuen, kleineren Schlag, den er gebaut hat: elf Jungtauben, gespendet von anderen Züchtern. Bis Weihnachten, hofft er, können er und seine Frau wieder ins Haus. Was geschieht, wenn das nicht gelingt, wenn der Gestank also bleibt, daran mag er kaum denken. Sein ganzes Leben hat er hier verbracht.
„Wo“, fragt er, „sollen wir denn dann hin?“