Heinsberg, das deutsche Modell
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„Wir haben die Chance, die Blaupause zu werden für den wirtschaftlichen Neustart“: Noch ist es still in Heinsberg, aber die Zuversicht wächst.
© Quelle: Jonas Güttler/dpa
Heinsberg. Immerhin ist Ulrich Hollwitz jetzt schon durch. Dreieinhalb Wochen war er nicht im Dienst, zehn Tage hat ihn das Virus heftig geplagt, Fieber, Husten und „dieses malade Gefühl“. Man spricht viel über die milden Verläufe von Covid-19, in denen die Betroffenen die Krankheit kaum spüren, und über die Verläufe, bei denen sie ins Krankenhaus müssen. „Ich war wohl in der Mitte“, sagt Ulrich Hollwitz.
Aber seit Montag ist er wieder auf dem Posten in der Kreisverwaltung Heinsberg, Zimmer 10. Hollwitz, 59 Jahre, ist Mitglied des Krisenstabs und Sprecher des Kreises. Geschwächt fühle er sich noch, sagt Hollwitz am Telefon, „die Krankheit hat schon ein paar Körner gekostet“. Aber er ist wieder da. „Immerhin bin ich jetzt, wenn die Wissenschaftler Recht haben, erst mal immun.“
“Gestern waren wir noch der Hotspot...”
Ein wenig ist Hollwitz ein Spiegel der Stimmung in seinem Kreis: Man spürt das Virus noch überall. Aber allmählich kann man vorsichtig beginnen, an das Danach zu denken – und das Positive zu sehen.
„Gestern waren wir noch der Hotspot, morgen sind wir vielleicht schon der Leuchtturm“, sagt Stephan Pusch, der Landrat.
„Heinsberg gibt uns eine unglaubliche Chance, weil das, was hier geschehen ist, auch im Rest von Deutschland passiert“, sagt Hendrik Streeck, der Virologe, der hier die Ausbreitung des Virus erforschen will.
„Wir haben die Chance, die Blaupause zu werden für den wirtschaftlichen Neustart“, sagt Frank Reifenrath, der Unternehmer, der mit „#hsbestrong“, „Heinsberg, sei stark“, „einfach mal rausgehauen“ abends in trotziger Stimmung von der Couch, eine einmalige Aktion zum Zusammenhalt schuf.
Nichts ist jetzt zu klein
Heinsberg, so klingt es, könnte ein Modell für das Land werden. Ausgerechnet Heinsberg. Der Landkreis, der westlichste der Republik, hatte bislang einen anderen Beinamen: das „Wuhan Deutschlands“. Denn in Deutschland gilt eine Karnevalsfeier Mitte Februar in Gangelt, Kreis Heinsberg, als Punkt Null der Epidemie. Zusammen mit Tirschenreuth in Bayern ist Heinsberg bis heute, gemessen an seiner Einwohnerzahl, die am schwersten getroffene Region. 38 Menschen sind hier bislang an Covid-19 gestorben, schon seit fünf Wochen gelten scharfe Ausgangsbestimmungen.
Und doch klingt Landrat Pusch durchaus zuversichtlich, als er am Telefon resümiert: „Wir sind noch nicht über den Berg. Aber vielleicht sind wir auch nicht mehr weit davon entfernt.“
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Kondition und Kompetenz: Stephan Pusch, Landrat des Kreises Heinsberg, schreckt vor unorthodoxen Methoden nicht zurück.
© Quelle: Jonas Güttler/dpa
Wenn jede Krise auch Talente sichtbar macht, von denen vorher niemand wusste, dann ist er das beste Beispiel. Pusch, eigentlich Anwalt, ist das Symbol von Kondition und Kompetenz, jemand, der lokalpolitische Kümmererqualitäten im besten Sinne verkörpert. Jeden Tag wendet er sich in Facebookvideos an seine Bürger. Spricht über die Situation in Schulen, im Krisenstab und auch schon mal darüber, wann und wie die Heinsberger denn jetzt bitte ihre Kita-Beiträge überweisen sollten.
Nichts ist da jetzt zu klein. Und wenn die große Politik in Düsseldorf in Berlin seiner Meinung nach nicht schnell genug in die Strümpfe kommt, dann bittet er auch schon mal die Chinesen direkt um Hilfe und düpiert damit seine Landesregierung. Pusch ist von der CDU. Aber das, sagen viele im Kreis, wisse eigentlich schon keiner mehr.
Die Zahl der aktuell Infizierten sinkt
Vergangene Woche hat er eine seiner Videobotschaften in der Tiefgarage des Kreishauses aufgenommen, vor geöffnetem Kofferraum, darin Kartons mit Mund-Nasen-Masken. „15 000 Stück“, sagt Pusch, „abgeholt vom chinesischen Konsulat.“
Wenn dieser Stephan Pusch nun ganz zart zuversichtlich klingt, dann hat das zwei Gründe. Der erste sind die Zahlen: 1331 offiziell registrierte Infektionen meldet der Kreis inzwischen, die Gesamtzahl steigt noch immer leicht an. Die Zahl der aktuell Infizierten aber sinkt, sie liegt inzwischen bei 672, weil immer mehr Menschen, wie Ulrich Hollwitz, gesund werden und nicht mehr viele neue Fälle dazukommen.
Der zweite Grund ist ein Projekt, das Pusch wenige Stunden zuvor im Kreishaus bei einer Pressekonferenz vorgestellt hat. Neben ihm steht da der Virologe Hendrik Streeck, 42 Jahre, Professor an der Uni Bonn, der in den kommenden Wochen eine Art „Wahl-Heinsberger“ werden will – und sich darauf durchaus zu freuen scheint. Zusammen mit 40 Studenten wird er in der Gemeinde Gangelt 500 repräsentativ ausgewählte Familien, insgesamt 1000 Personen, befragen, wird Abstriche und Blutproben nehmen, die dann auf aktuelle und überstandene Infektionen untersucht werden.
Pilotprojekt fürs ganze Land
All das soll Antworten liefern auf jene Fragen, die derzeit tatsächlich ganz Deutschland umtreiben: Wie hoch ist die Dunkelziffer der Infizierten? Wie hoch ist die Sterblichkeit wirklich? Bei welchen Gelegenheiten stecken sich Menschen an – und warum stecken sich einige trotz engen Kontakts mit Infizierten nicht an? Welche Maßnahmen wirken – und welche eher nicht?
„Es handelt sich in jeder Hinsicht um eine Pilotuntersuchung“, sagt Streeck – von der ihn, nebenbei gesagt, gewundert habe, dass das Robert-Koch-Institut sie nicht längst selbst angestrengt habe. Heinsberg, genauer Gangelt, dieser eng begrenzte Raum mit seinem exakt datierbaren Ausbruch, ist für die Forscher ein Glücksfall: „In Berlin wäre sowas fast unmöglich gewesen.“ Erste Ergebnisse soll es bereits in der nächsten Woche geben, vollständige in vier Wochen.
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„Glücksfall für Forscher“: Virologe Hendrik Streeck untersucht den Verlauf in Gangelt.
© Quelle: Federico Gambarini/dpa
Ist also alles auf einem guten Weg in Heinsberg? So einfach ist es natürlich nicht, die Zuversicht fußt noch auf losem Grund. Noch immer leiden auch hier Menschen sehr. Ein Ausbruch in einem Altenheim, und die Zahlen sehen schon wieder ganz anders aus. Und auch die Unternehmen kämpfen jetzt ums Überleben.Einer, der sie bei diesem Kampf unterstützt, ist Frank Reifenrath, eines dieser Multitalente in Sachen soziales Engagement, die diesen Kreis gerade prägen
Beim TV Eintracht trainiert er die Boxer, als Vorsitzender des Gladbach-Fanclubs Blaue Welle geht er mit Behinderten ins Stadion. Außerdem führt er ein Unternehmen, das Firmen alle erdenklichen Dienstleistungen anbietet, auch finanzielle. Alles zusammen, sozialer Sinn und ökonomischer Verstand, machen ihn gerade zu einer extrem gefragten Person. Der Aufruf „hsbestrong“ sollte eigentlich nur die Reaktion auf negative Schlagzeilen über Heinsberg sein; inzwischen ist es eine Solidaritätsaktion, die ihn voll fordert. „20 Stunden hsbestrong, drei Stunden Schlaf, eine Stunde Sport“, sagt Reifenrath am Telefon, „das ist jetzt mein Tag.“
Aufträge werden storniert
Reifenrath hat zu unzähligen Unternehmern im Kreis Kontakt. Er kennt ihre Geschichten. Die von den Handwerkern, die aus Düsseldorf keine Aufträge mehr bekommen, weil niemand ein Auto mit Heinsberger Kennzeichen vor der Tür stehen haben will. Die von den Gastronomen, die einen Brandbrief an den Ministerpräsidenten geschrieben haben, dass all die angekündigten Hilfen sie erst erreichen, wenn sie schon pleite sind.
Reifenrath weiß, dass sich viele bei Banken und Behörden aufrichtig bemühen. Er weiß aber auch, dass manche Unternehmen nicht viel Zeit haben: „Da zieht sich jeder Tag wie ein Monat.“ Und so hat er neben der Hoffnung auch eine große Sorge: Dass Heinsberg nicht zur Blaupause des Neustarts, sondern des Niedergangs werden könnte.
Entschieden ist noch nichts. Klar ist nur: „Wenn wir es schaffen, dann schaffen es auch es auch die anderen Kreise“, sagt er. Und wenn es dann geschafft ist, will er mit Landrat Pusch mal ein Bier trinken. „Irgendwo, wo ihn keiner kennt“, so haben sie es verabredet. Dürfte nicht einfach werden, ahnt Reifenrath. Aber das, sagt er, ist im Moment sicher ihr kleinstes Problem.