Grüne Kanzlerkandidatin Baerbock: Teamgeist und Disziplin gegen Führungschaos
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Grünen-Chefin Annalena Baerbock übernimmt die erste Kanzlerkandidatur ihrer Partei.
© Quelle: imago images/Metodi Popow
Berlin. Wenn es nach Organisations- und Entscheidungsfähigkeit geht, ist das Rennen um die Kanzlerschaft entschieden: Strukturiert und diszipliniert haben die Grünen ihre Kanzlerkandidatur geklärt. Zwei Interessenten hatten sie, aber anders als bei der Union haben die das gemeinsam und ohne offene Kämpfe geklärt, in einem vorgegebenen Zeitrahmen und ohne die Parteimitglieder gegeneinander aufzuhetzen.
Derweil drehten Armin Laschet und Markus Söder x-fache Runden aus Trotz und Drohungen.
Es ist wie ein Zusatzgeschenk an Annalena Baerbock, die erste grüne und obendrein auch noch jüngste Kanzlerkandidatin der bundesdeutschen Geschichte. Dass sie die Grünen in die Bundestagswahl führt, ist keine wirkliche Überraschung: Baerbock hatte in den vergangenen Monaten den bisherigen Umfrageliebling Robert Habeck eingeholt, und in machen Umfragen sogar stellenweise überholt. Sie leuchtete vor Entschlossenheit und Kampfeslust. Sie gilt als fachlich sattelfester und nervenstärker als ihr Co-Vorsitzender.
Vor diesem Hintergrund wäre es für die Grünen mit ihrem feministischen Anspruch deutlich schwieriger gewesen, den männlichen Kandidaten nach vorne zu schieben. Eine Frau, gerade mal 40 - verkörpert das klare Gegenmodell zum Angebot von Union und SPD mit ihren gesetzten Herren, wen auch immer CDU und CSU schließlich nominieren.
Angriffspunkt für die Konkurrenz
Die Grünen machen vor, wovon die Union einmal geträumt hat: Polit-Aufsteiger à la Emmanuel Macron oder Sebastian Kurz galten dort als Blaupause, um als frisch und modern zu erscheinen. Ohne Risiko ist die Nominierung Baerbocks dennoch nicht. Ihre fehlende Regierungserfahrung wird von der Konkurrenz zum Haupt-Angriffspunkt gemacht werden, auch von denen, die Friedrich Merz mit Verve fürs Kanzleramt empfehlen würden, obwohl der von Ministerämtern bisher ebenfalls nur geträumt hat.
Erfahrung kommt immer auch mit dem Amt. Dass dieser Prozess auch ohne Blessuren möglich ist, zeigt unter anderem die neuseeländische Premierministerin Jacinda Adern gerade sehr erfolgreich. Und dass auch mit jahrelanger Erfahrung einiges gehörig schief gehen kann, haben Bundesregierung und Ministerpräsidenten in der Corona-Politik demonstriert.
Gute Umfragewerte und die neu entdeckte Fähigkeit zum Zusammenhalt haben den Grünen in den vergangenen Monaten Schwung verliehen – und nebenbei viele neue Mitglieder. Erfolg steckt an. Die Union half mit Führungschaos und Korruptionsaffären.
Perspektive in Corona-Zeiten
Nun beginnt der schwierige Teil der Reise: Die Grünen müssen über die nächsten fünf Monate bis zur Bundestagswahl den Schwung aufrecht erhalten, um ihr Ziel zu erreichen. Sie müssen der von der Pandemie wund geriebenen Gesellschaft eine Perspektive bieten. Die corona-bedingte Lust auf Normalität aber passt nicht unbedingt zur Grünen-Erzählung von einem Aufbruch.
Das Vertrauen in die Kraft der Gemeinsamkeit, auf die die Grünen setzen, kontrastiert mit dem Scheitern von Bund und Ländern bei der Teamarbeit. Und autoritäre Politiker wie CSU-Chef Markus Söder können in Umfragen punkten.
Die Grünen versuchen, mit Dynamik dagegen zu halten und mit der Umarmung all derer, die ihnen bislang skeptisch gegenüber stehen: Industriearbeiter ansprechen ohne Klimaschutz-Aktivisten zu verlieren, so stellt sich das Baerbock vor. Einfach ist das nicht.
Und wenn sich die Umfragewerte der Grünen in Wahlergebnisse umsetzen und die Partei in ungekannter Stärke in den Bundestag einzieht, wird es hohe Erwartungen geben. Kompromisse in Koalitionsverhandlungen werden dadurch nicht leichter.
Es beginne nun „ein neues Kapitel“, hat Annalena Baerbock in ihrer ersten Rede als Kanzlerkandidatin gesagt.
Noch nie hat in Deutschland eine andere Partei als die CDU oder die SPD den Kanzler oder die Kanzlerin gestellt. Es ist gut möglich, dass sich das nun ändert.