Green-Deal-Studie empfiehlt Einbindung Russlands in die EU-Klimastrategie
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Sonnenblumen und Windräder: Der Green Deal soll den Weg zu einer EU ohne Klimagase ebnen.
© Quelle: Patrick Pleul/zb/dpa
Berlin. Die überaus ehrgeizigen Klimaziele Deutschlands und der Europäischen Union werden sich ohne die Einbindung Russlands und seiner riesigen Ressourcen nicht verwirklichen lassen. Davon ist der ehemalige CDU-Politiker Friedbert Pflüger (66) überzeugt, der heute eine Honorarprofessur für Klima- und Energiesicherheit an der Uni Bonn innehat und in Berlin mit der Bingmann Pflüger International GmbH ein weltweit tätiges Beratungsunternehmen betreibt.
Im Auftrag der österreichischen Denkfabrik „Dialog Europe Russia e.V.“ (Der) unter Mentorenschaft von Altbundeskanzler Wolfgang Schüssel (75, ÖVP) hat Pflüger eine knapp 70 Seiten umfassende Studie verfasst, die Chancen für eine gemeinsame Klima- und Energiepolitik zwischen der EU und dem größten Flächenland der Erde auslotet.
Unter dem Titel „Der European Green Deal und Russland“ listet das mit einem Vorwort Schüssels versehene Papier nach umfangreicher Bestandsaufnahme neun Punkte unter der Rubrik „Kooperationspotenziale“ auf. Ein Beispiel ist die Aufforstung, um das riesige Potenzial von Wäldern als Hauptabsorber von Kohlendioxid zu nutzen.
Wald als CO₂-Schlucker
Der Europen Green Deal sieht vor, dass Europa bis 2050 zum klimaneutralen Kontinent wird, Deutschland will das nach dem jüngsten Kabinettsbeschluss vom 12. Mai sogar schon 2045 erreichen. Das heißt, es dürfen dann nur noch so viele Treibgase ausgestoßen werden, wie auch wieder gebunden werden können. Pflüger: „Dem Wald kommt dabei eine enorme Rolle zu.“
Friedbert Pflüger war von 1990 bis 2006 Mitglied des Deutschen Bundestages und galt in der CDU als Vertreter einer progressiven Linie. Heute arbeitet er als Politikwissenschaftler und Unternehmensberater. Seit 2010 ist er auch Direktor des European Center for Climate am King's College London.
© Quelle: privat
Russland verfügt laut Studie mit einer nutzbaren Freifläche von 151 Millionen Hektar – drei Mal so groß wie Deutschland – weltweit über das mit Abstand größte Potenzial zur Wiederaufforstung. „Die EU könnte einen Vertrag mit Russland schließen, nach dem man gemeinsam – zertifiziert und nachhaltig – an die Aufforstung geht“, sagt Pflüger.
Das könnte auch deutschen Unternehmen bei der Verbesserung ihrer CO₂-Bilanz helfen, denn Aluminium-, Stahl- und Zementwerke würden nicht von heute auf morgen ohne Kohlendioxidausstoß produzieren.
Das Potenzial zur Aufforstung Russlands im Vergleich mit anderen Ländern.
© Quelle: ETH Zürich
Punkt 6 der „Kooperationspotenziale“ nennt die CO₂-Speicherung in ehemaligen Erdöl- und Erdgasfeldern in Russland. Hier gebe es bereits eine Zusammenarbeit zwischen dem russischen Mineralölunternehmen Rosneft und der britischen BP.
Bedarf an Wasserstoff wächst
Da Wasserstoff der einzige Brennstoff ist, bei dessen Verwertung kein CO₂ entsteht, wird der Bedarf in der EU in den nächsten Jahren enorm steigen – von rund zehn Millionen Tonnen 2018 auf über 40 Millionen Tonnen bis 2050. Nach Berechnungen des Pflüger-Papiers wird die heimische Wasserstoffproduktion aber nur 25 Millionen Tonnen erreichen.
Es entstünde eine Versorgungslücke von 15 Millionen Tonnen, die durch Importe gedeckt werden müsse. „Obwohl sich die russische Wasserstoffindustrie noch in einem frühen Entwicklungsstadium befindet, deuten erste Pläne darauf hin, dass Russland bis 2035 die Wasserstoffexporte auf bis zu sieben Millionen Tonnen steigern könnte“, heißt es in der Studie.
Wie häufig schon anderer Stelle erfolgt auch hier der Hinweis, dass die umstrittene Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 dafür ausgelegt sei, neben Erdgas auch Wasserstoff zu transportieren.
Der Anteil der erneuerbaren Energien in Russland ist ausbaufähig.
© Quelle: IEA
Wie schon die 13. Deutsch-Russische Rohstoffkonferenz Ende April in Berlin, verweist auch die Pflüger-Studie auf die enormen Ressourcen Russlands nicht nur bei Öl, Gas und Kohle, sondern auch bei vielen anderen Bodenschätzen wie etwa Graphit, Nickel, Cobalt, Aluminium oder Lithium.
Unter Punkt 7 empfiehlt das Papier eine europäisch-russische Rohstoffpartnerschaft, um sicherzustellen, dass EU-Unternehmen Zugang zu Bodenschätzen erhalten, die für die Schlüsselindustrien des European Green Deal benötigt werden. Zugleich ginge es darum, hier die Abhängigkeit von China zu reduzieren. China deckt derzeit 71 Prozent der Weltmarktproduktion für Seltene Erden ab.
Last but not least spart die Studie auch das heikle Thema Kernenergie nicht aus und sieht auch hier Potenzial zur Zusammenarbeit, zumindest in der Forschung, aber auch bei der Wiederaufarbeitung. „Ob wir das in Deutschland wahrhaben wollen oder nicht, mindestens die Hälfte der EU-Mitgliedsländer setzt weiterhin auch auf Kernenergie“, sagt Pflüger und verweist auf das nach wie vor auch hierzulande nicht gelöste Problem der Endlagerung hochradioaktiver Kernbrennstoffreste.
Der staatliche russische Konzern Rosatom, der aktuell 38 Kernreaktoren betreibt, die 20 Prozent des Strombedarfs Russlands decken, sei bereits in Kooperationsgesprächen mit Frankreich, sagt Pflüger und fügt hinzu, Deutschland sollte sich dem technologischen Fortschritt auf diesem Gebiet nicht verschließen.
Die derzeitige Wasserstoffherstellung weltweit basiert vor allem auf fossilen Quellen.
© Quelle: IREA
Kritik von der Autoindustrie
Unmittelbar nach Bekanntwerden der neuen Klimaziele der Bundesrepublik, hagelte es schon Kritik von verschiedenen Seiten: Die Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie (VDA), Hildegard Müller, nannte die Klimapolitik der Regierung überhastet und unrealistisch.
„Ich kritisiere ausdrücklich das Klimaschutzgesetz“, sagte Müller auf einem Forum in München und bezweifelte, dass die Koalition die Konsequenzen für den Industriestandort und die Beschäftigung in der Eile richtig abgeschätzt habe.
Die Elektromobilität laufe gerade hoch. Aber „es wird immer dann schwierig, wenn die Politik ständig Rahmenbedingungen verändert“, sagte Müller. Dass sich exakte CO₂-Werte für 10 oder 15 Jahre im Voraus planen ließen, „ist eine Illusion, die dort aufgebaut wird“.
Die Fehler bei der Energiewende sollten jetzt nicht bei der Verkehrswende fortgeführt werden. Die Politik gebe nicht nur Ziele, sondern leider auch die Wege dahin vor, obwohl Ladesäulen und CO₂-freier Strom fehlten. „Ich glaube, dass der Atomausstieg damals überhastet war“, sagte Müller.
Reitzle: Energiewende hat Strom schmutziger gemacht
Der Aufsichtsratschef des Autozulieferers Continental und des Industriegase-Weltmarktführers Linde, Wolfgang Reitzle, erklärte die Atomenergie beim Klimaschutz für unverzichtbar. Eine „völlig verkorkste Energiewende“ habe den Strom in Deutschland schmutziger gemacht. Ein E-Auto habe mit dem heutigen Strommix ähnliche CO₂-Werte wie ein Dieselauto.
„Es wird eine Technologie mit Gewalt in den Markt gedrückt, obwohl sie gar keinen Klimavorteil hat.“ Wer nicht nur den Verkehr, sondern auch die Industrie und alle Heizungen CO₂-frei elektrifizieren wolle, komme „um eine neue Art der Kernenergie nicht herum“. Wind- und Sonnenenergie allein reichten dafür nicht.
Kritik kommt auch von Greenpeace Energy und zwar an einem Referentenentwurf des Bundeswirtschaftsministeriums, in dem Anforderungen für die Produktion von grünem Wasserstoff fixiert sind und der am Mittwoch im Kabinett beraten wurde.
Greenpeace Energy kritisierte im Vorfeld, dass nicht klar genug definiert sei, was für Energie bei der Produktion von grünem Wasserstoff eingesetzt werden dürfe. Wenn der zur Herstellung – mittels Elektrolyse von Wasser – nötige Strombedarf aus fossilen Kraftwerken gedeckt werde, dann führe das am Ende nicht zu mehr Klimaschutz, sondern zu höheren CO2-Emissionen.
Eine Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums sagte nach der Kabinettssitzung, die Kritik gehe fehl, der Entwurf lege sehr wohl genau fest, dass grüner Wasserstoff nur mit erneuerbaren Energien hergestellt werden dürfe.