Gorbatschow im Interview: Der Mann, der die Welt veränderte
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Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow trifft am 10.10.1986 auf dem Flughafen von Reykjavik zu einem Gipfeltreffen mit dem US-Präsidenten Reagan ein.
© Quelle: picture alliance / Martin Athens
Herr Gorbatschow, manche Deutsche sagen, wenn es den Friedensnobelpreis nicht gäbe, hätte man ihn für Sie erfinden müssen. In Russland aber wirft man Ihnen vor, Sie hätten 1989 die DDR an Westdeutschland und Osteuropa an die Nato verschenkt.
Um mich in solchen Fällen nicht in langen Erklärungen zu verlieren, stelle ich eine einfache Gegenfrage: An wen verschenkt? Polen an die Polen, Ungarn an die Ungarn und die Tschechoslowakei an Tschechen und Slowaken.
Und die DDR an die Deutschen?
Die Formel „die DDR verschenkt“ klingt noch seltsamer. In der DDR gingen 1989 Hunderttausende auf die Straße, für die Einheit ihrer Nation. Im März 1990 stimmte die Mehrheit der DDR-Bürger in freien Wahlen für die Wiedervereinigung. Der Wille eines Volkes erfüllte sich, das nach dem Untergang des Hitler-Regimes bewiesen hat, wie entschlossen es den Weg zur Demokratie verfolgt. Von welchen „Geschenken“ kann da die Rede sein?
Man wirft Ihnen auch vor, Sie hätten dabei Russland vergessen.
Unsere guten Beziehungen mit dem vereinigten Deutschland haben unserem Land unbestreitbare Vorteile gebracht, politisch und wirtschaftlich. In Russland arbeiten heute 5000 deutsche Unternehmen. Wenn das Verhältnis jetzt schlechter ist, als wir es uns wünschen, hat das andere Gründe. Ich bin sicher, die naturgemäß guten Beziehungen zwischen uns kehren zurück.
Der Mauerfall, die deutsche Wiedervereinigung und das Ende des Kalten Krieges wären ohne Sie unmöglich gewesen. Welche Philosophie, welche Idee stand damals hinter Ihrer Politik?
Vorher hingen unsere Verbündeten, die Volksdemokratien in Osteuropa, von der Sowjetunion ab. Sie erhielten von der UdSSR Wirtschaftshilfe, besaßen umgekehrt keine volle Souveränität. Im Warschauer Pakt hatte die sowjetische Führung das letzte Wort. „Unerwünschte“ Massenbewegungen wie die Ereignisse in Ungarn 1956 oder den Prager Frühling 1968 unterdrückte die Sowjetarmee mit Gewalt – unter Hinzuziehung anderer Streitkräfte des Paktes. Dann kam Mitte der Achtzigerjahre in der UdSSR eine neue Führung an die Macht, man wählte mich zum Generalsekretär, also de facto zum Staatschef. Wir analysierten die Lage im Land ernsthaft und ehrlich, das Ergebnis lautete kurz gefasst: So kann es nicht weitergehen.
Und wie ging es weiter?
Wir beschlossen in der UdSSR grundlegende Reformen, Perestroika (Umbau) und Glasnost (Transparenz), strebten echte Demokratie an. Solche Reformen konnten nur freie Menschen verwirklichen. Darum sahen wir es als Schlüsselaufgabe, unseren Bürgern maximale Freiheit zu geben. Konnten wir dieselben Freiheiten den Bürgern unserer sozialistischen Bündnisstaaten verweigern? Auf keinen Fall.
Was sagten deren Staats- und Parteichefs dazu?
Wir haben die Führer der Staaten des Warschauer Paktes sofort über unsere Position informiert. Sie alle versammelten sich im März 1985 beim Begräbnis Konstantin Tschernenkos, meines Vorgängers als Parteichef. Es war das erste Treffen nach meiner Ernennung. „Ich möchte Ihnen als Generalsekretär der KPdSU mitteilen“, erklärte ich, „dass wir Ihnen völlig vertrauen und nicht mehr den Anspruch haben, Sie zu kontrollieren. Sie machen Politik gemäß Ihrer nationalen Interessen und tragen dafür die volle Verantwortung vor Ihren Völkern und Parteien.“ Das bedeutete das Ende der sogenannten Breschnew-Doktrin der eingeschränkten Souveränität. Aber ich sah, viele meiner Gesprächspartner nahmen diese Worte nicht ernst, hielten sie offenbar für leere politische Phrasen.
Warum?
Diese Wendung war ihrer Meinung nach wohl zu scharf. Später geschah es sogar, dass der rumänische Führer Ceausescu vorschlug, wir müssten „den Sozialismus in Polen verteidigen“. Im damaligen Sprachgebrauch bedeutete das nur eins: intervenieren, die polnische Volksbewegung unterdrücken. Aber wir beharrten auch in anderen Fällen konsequent auf dem Prinzip der Nichteinmischung. Die Zeiten hatten sich geändert.
Manches, was Sie damals erreicht haben, ist wieder verloren gegangen. 1987 unterzeichneten Sie mit US-Präsident Ronald Reagan den INF-Vertrag über das Verbot nuklearer Mittelstreckenraketen. 2019 sind beide Seiten ausgestiegen. Wer trägt die Verantwortung?
Erinnern wir uns, wer als Erster seinen Austritt erklärt hat. Das war der Präsident der USA. Vorher waren sich beide Seiten über 30 Jahre einig, dass dieser Vertrag eine der wichtigsten Grundlagen der strategischen Stabilität ist. Jetzt wurde er zunichtegemacht, so wie vorher der ABM-Vertrag über die Begrenzung der Antiraketensysteme.
Weshalb?
Ich glaube, da will jemand alle Verpflichtungen loswerden. Das ist zur neuen „Generallinie“ der amerikanischen Politik geworden. Man hätte technische Meinungsverschiedenheiten zur Einhaltung einzelner Punkte des Vertrags durch Verhandlungen regeln können, wie das früher schon mehrfach gelang. Jetzt aber muss man verhandeln, damit das Ende des INF-Vertrags nicht die Gefahr eines großen Krieges verschärft. Denn diese Raketen sind wegen ihrer minimalen Flugzeit die größten Destabilisierungsfaktoren.
Sehen Sie noch eine Lösung?
Wladimir Putin hat ein Moratorium für ihre Stationierung vorgeschlagen. Das könnte der erste Schritt zu Verhandlungen sein. Wie ich sehe, haben Deutschland und andere europäische Länder keine Lust, wieder Raketenaufstellgebiet zu werden. Alle erinnern sich an die Krise Anfang der Achtzigerjahre, als in Europa Hunderte Raketen standen, sowjetische SS-20, amerikanische Pershings und Marschflugkörper. Eine neue Runde des Raketenrennens könnte noch gefährlicher werden. Aber jetzt stellt sich heraus, dass die USA dabei sind, die Entwicklung von vier Typen neuer Mittelstreckenraketen zu Ende zu bringen. Also haben die Arbeiten an ihnen nicht erst gestern begonnen. Wie kann man danach den amerikanischen Verhandlungspartnern noch vertrauen?
Sie wollten mit Ihrer Perestroika den Sowjetsozialismus nicht zerstören, sondern reformieren. Glauben Sie noch an demokratischen Sozialismus?
Unser Volk, jedenfalls sein Großteil, war von den Idealen einer gerechten Gesellschaft überzeugt, den Idealen des Sozialismus. Auch ich glaubte an sie. Und ich glaube weiter daran, in der modernen Version. Ich sehe die Welt in vielem aus der sozialdemokratischen Perspektive. Die Schlüsselwerte Gerechtigkeit und Solidarität werden nirgendwohin verschwinden.
Brauchen Russland, seine Politik und seine Wirtschaft eine neue Perestroika?
Sicher geht es nicht um ein Remake der Perestroika. Wir haben damals das Wichtigste getan, den Prozess so weit vorangetrieben, dass niemand mehr die Uhren zurückstellen kann. Auch wer die Perestroika heute kritisiert, genießt die Rechte und Freiheiten, die sie ihm gegeben hat. Veränderungen sind natürlich weiter nötig, im Wirtschafts-, im Rechts- und im Wahlsystem. Allein mit Stabilität kommt man nicht weit. Erst vor ein paar Tagen ergab die Umfrage eines renommierten Meinungsforschungszentrums, dass fast 60 Prozent der Bürger für radikale Veränderungen sind. 53 Prozent glauben, solche Veränderungen seien nur möglich, wenn sich das politische System grundlegend ändert. Vor allem gilt es, Mittel zu finden, das Verwaltungssystem zu modernisieren und das politische System zu demokratisieren.
Was halten Sie von der liberalen Opposition in Russland? Und was von der Protestbewegung dieses Sommers?
Wieso reden Sie nur von der liberalen Opposition? Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit ist für jede demokratische Gesellschaft wesentlich. Die Menschen haben ein Recht auf ihre Meinung, ihre Position. Die Kundgebungen in Moskau waren ein Signal für die Mängel im Wahlsystem. Und eine erdrückende Mehrheit der Demonstranten hat nicht gegen Gesetz und öffentliche Ordnung verstoßen. Man sollte keine Feinde aus ihnen machen.
Präsident Putin sieht das offenbar anders. Wie bewerten Sie ihn und seine Politik?
Als Wladimir Putin die Macht übernahm, herrschte Chaos im Land, ob in Politik, Wirtschaft, Armee oder der Sozialsphäre. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er unter diesen Umständen ausschließlich nach einem Lehrbuch der Demokratie hätte handeln können. Und er musste handeln, ohne Verzögerung. Einige Entscheidungen riefen Kritik hervor, aber es gelang, die Lage zu stabilisieren. Die Menschen bekamen das Gefühl, dann die Gewissheit, dass sich ihr Leben zum Besseren verändert.
Ist weitere Veränderung unter Putin möglich?
Wenn es das Ziel der Staatsmacht ist, Bedingungen für das Entstehen einer starken modernen Demokratie zu schaffen, bin ich bereit, den Präsidenten zu unterstützen, auch wenn ich mit einzelnen seiner Maßnahmen nicht einverstanden bin. Er hat selbst gesagt, wir bräuchten konkurrierende Programme und eine Opposition, die fähig ist, bei Wahlen als reale politische Kraft mit starken Kandidaten anzutreten. Die Hauptfrage lautet jetzt, wie man den politischen Prozessen Dynamik verleihen kann, ohne dabei Destabilisierung und Chaos zuzulassen. Der Präsident, die politischen Parteien und die ganze Gesellschaft sollten darüber nachdenken.
Michail Gorbatschow, inzwischen 88 Jahre alt, gibt nur noch selten ausführliche Interviews. Aber er hat sich bereit erklärt, schriftlich auf Fragen unseres Moskau-Korrespondenten zu antworten – und Nachfragen zuzulassen.