Massenstreik und Protest: In Griechenland brodelt es
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Gewerkschaftsmitglieder und Bürger protestieren während eines 24-stündigen Generalstreiks in Athen.
© Quelle: Socrates Baltagiannis/dpa
Athen. Am Donnerstag ging gar nichts in Griechenland. Gewerkschaften und Verbände hatten zu einem Generalstreik aufgerufen. Busse und U-Bahnzüge blieben in den Depots, auch die Taxifahrer und Taxifahrerinnen beteiligten sich an dem Ausstand. Schulen und Behörden waren geschlossen. Weil die Fluglotsen und Fluglotsinnen ebenfalls streikten, wurden alle In- und Auslandsflüge annulliert. Auch die Seeleute und Hafenarbeitenden beteiligten sich an dem Streik. Dadurch waren die Fährverbindungen zu den griechischen Inseln unterbrochen. In Athen, Thessaloniki und vielen anderen Städten zogen Zehntausende Demonstranten und Demonstrantinnen durch die Straßen. Sie forderten mit Sprechchören und Spruchbändern eine lückenlose Aufklärung der Umstände, die zu dem Unglück führten.
In der Nacht zum 1. März war bei der mittelgriechischen Ortschaft Tempi ein Intercity-Express mit hoher Geschwindigkeit in einen entgegenkommenden Güterzug gerast. Die ersten drei Wagen des Schnellzugs wurden bei dem Aufprall völlig zertrümmert und gerieten in Brand. 57 der 350 Fahrgäste kamen ums Leben. Ein Fahrdienstleiter hatte den Intercity mit einer falschen Weichenstellung auf dasselbe Gleis geschickt, auf dem der Güterzug entgegenkam.
Missstände bei der staatlichen Bahngesellschaft
Der 59 Jahre alte Bahnmitarbeiter sitzt in Untersuchungshaft. Ihn erwartet ein Strafverfahren wegen fahrlässiger Tötung. Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis sprach von einem „tragischen menschlichen Fehler“. Tatsächlich führten aber auch krasse Missstände bei der staatlichen Bahngesellschaft OSE, die das Schienennetz betreibt, zu der Katastrophe. Lichtsignale funktionierten nicht. Sicherheitseinrichtungen, die den Fehler des Fahrdienstleiters hätten erkennen können, waren defekt oder abgeschaltet.
Erst drei Wochen vor der Katastrophe hatten Bahngewerkschafter und Bahngewerkschafterinnen in einem Brandbrief an den Verkehrsminister und die Bahngesellschaft OSE die seit vielen Jahren bestehenden Missstände geschildert. „Worauf warten Sie, um einzugreifen? Was muss noch passieren?“, hieß es in dem Schreiben.
Verkehrsminister Kostas Karamanlis trat noch am Tag nach dem Unglück zurück. Auch führende Manager und Managerinnen der OSE mussten gehen. Die Sicherheitsmängel und Versäumnisse bei der griechischen Bahn fallen zwar auch in die Verantwortung früherer Regierungen. Mitsotakis muss sich aber fragen lassen, was seine Regierung in den vergangenen vier Jahren getan hat, um die Fehler zu korrigieren – offenbar nichts, oder jedenfalls nicht genug. Der griechische Premier hält sich viel auf seine Reformpolitik zugute, vor allem die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung. Bei der Bahn herrschen dagegen Zustände wie vor 100 Jahren: Weichen werden von Hand gestellt, Züge telefonisch von einem Bahnhofsvorsteher an den nächsten übergeben.
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16.3.2023, Griechenland, Athen: Während des Generalstreiks in Athen kommt es vor dem Parlamentsgebäude zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Bereitschaftspolizei.
© Quelle: Socrates Baltagiannis/dpa
Wut auf die Regierung ist groß
Der anfängliche Schock angesichts der Katastrophe und die Trauer um die Opfer schlagen nun immer mehr in Wut um. Sie trifft vor allem die Regierung. Bisher ging Mitsotakis als klarer Favorit in die Parlamentswahlen, die im Frühjahr stattfinden sollen. Jetzt gerät der konservative Premier in die Defensive. In einer Umfrage erklärten 56 Prozent der Befragten, das Zugunglück werde ihre Wahlentscheidung „erheblich beeinflussen“. 62 Prozent bewerten das Krisenmanagement des Premiers und der Regierung negativ. In jüngsten Umfragen liegt die regierende Nea Dimokratia (ND) erstmals seit sechs Jahren unter der 30-Prozent-Marke. Ihr Vorsprung gegenüber dem Linksbündnis Syriza ist von 7 auf unter 3 Prozentpunkte zusammengeschmolzen. Damit können die Demoskopen nicht mehr klar prognostizieren, welche der beiden Parteien die Wahl gewinnen wird.
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Mitsotakis fällt in Umfragen
Mitsotakis hoffte, bei den Wahlen seine absolute Mehrheit im Parlament verteidigen zu können. Die ist, wenn sich die Prognosen der Demoskopen bewahrheiten, mit dem Unglück in weite Ferne gerückt. Der Oppositionsführer und frühere Regierungschef Alexis Tsipras könnte versuchen, mit linken Splitterparteien eine Koalition zu bilden und so an die Macht zurückkehren.
Mitsotakis spielt nun auf Zeit. Die Wahlen müssen spätestens Anfang Juli stattfinden. Bisher galt der 9. April als möglicher Termin. Davon ist jetzt keine Rede mehr. Der angeschlagene Regierungschef dürfte den Urnengang so lange wie möglich hinauszögern – in der Hoffnung, dass sich bis dahin der Zorn der Wählerinnen und Wähler über das Staatsversagen etwas gelegt hat.