Gefangen im Niemandsland: die Migranten an der Grenze und die europäische Politik
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/BCLHWS6GCNDU3PLCV46UG2MEVE.jpg)
Der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki besuchte am Dienstag die Grenztruppen in Kuznica.
© Quelle: Polish Ministry Of Defence via G
Bei Kuznica an der polnisch-belarussischen Grenze blieb es am Dienstag ruhig. Polnische Uniformierte reparierten die Beschädigungen, die der versuchte Grenzsturm von Flüchtenden aus dem Nahen Osten am Montag hinterlassen hatte. Mehrere Tausend Menschen sitzen in einem improvisierten Camp zwischen den Grenzzäunen fest.
Polens Präsident erhebt schwere Vorwürfe
Polens Präsident Andrzej Duda hat angesichts der angespannten Lage im Grenzgebiet schwere Vorwürfe gegen Belarus erhoben. Die Migranten an der Grenze würden von belarussischer Seite blockiert, sodass sie das Gebiet nicht verlassen könnten, sagte Duda. Das belarussische Regime greife die Grenze Polens und der EU auf bisher „beispiellose Weise“ an, indem es Migranten de facto ins Land einlade und an die polnisch-belarussische Grenze dränge, sagte Duda weiter.
Der Minsker Machthaber Alexander Lukaschenko beklagte in einem Telefongespräch mit Russlands Präsident Wladimir Putin das „harte Vorgehen der polnischen Seite“ gegen friedliche Menschen. „Besondere Besorgnis lösen die Tatsachen einer Verlegung von Streitkräften Polens an die Grenze aus“, sagte Lukaschenko.
Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) forderte die Regierungen von Belarus und Polen auf, eine humanitäre Katastrophe im Grenzgebiet zu verhindern. „Wir fordern sofortigen Zugang ins Grenzgebiet, um die Flüchtenden versorgen zu können“, sagte eine UNHCR-Sprecherin dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
„Mindestens zehn Menschen sind bereits an der Grenze gestorben. Wir befürchten, dass die aktuellen Entwicklungen dazu führen, dass wir den Verlust weiterer Menschenleben beklagen müssen“, so die Sprecherin. Belarus müsse aufhören, Migrantinnen und Migranten als politisches Druckmittel zu missbrauchen.
Die Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europaparlament, Ska Keller, hat Pläne kritisiert, an der polnisch-belarussischen Grenze weitere Befestigungen gegen Migrantinnen und Migranten zu errichten. „Mauern und Zäune gegen Menschen zu bauen kann niemals der richtige Weg sein“, sagte Keller dem RND.
Den EU-Mitgliedsstaaten müsse bewusst sein, „dass es gerade um Menschen geht, die aus einem guten Grund geflüchtet sind und nun in der Europäischen Union Schutz suchen“, so die Grünen-Politikerin weiter. „Frauen, Kinder und Männer sitzen bei Minustemperaturen frierend im Wald und werden als Bedrohung gesehen“, sagte Keller: „Diese schutzsuchenden Menschen werden instrumentalisiert und gegen die Europäische Union eingesetzt, und das funktioniert leider.“
Die EU müsse dem belarussischen Machthaber Lukaschenko, aber auch dem russischen Präsidenten Putin „entschiedener entgegentreten und deutlich machen, dass diese Menschen für sie keine Bedrohung bedeuten“.
EU will gegen Migrantenflüge vorgehen
Die EU bereitet unterdessen neue Sanktionen vor, um das Lukaschenko-Regime unter Druck zu setzen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen forderte Sanktionen gegen Fluggesellschaften von Drittstaaten, die am Transport von Migrantinnen und Migranten nach Belarus beteiligt sind. Bevor das geschieht, soll EU-Kommissionsvize Margaritis Schinas in Herkunfts- und Transitländern der Migranten ausloten, ob Airlines bereit sind, Flüge nach Minsk auszusetzen.
Die Mission hat ein Vorbild. Schon vor einigen Wochen war der Hohe Beauftragte für die gemeinsame Außenpolitik der EU, Josep Borrell, im Irak. Nach Diplomatenangaben war der Spanier erfolgreich: Mehrere irakische Airlines setzten daraufhin ihre Flüge nach Belarus bis mindestens zum Jahresende aus.
Die EU hat in den vergangenen Wochen nach eigenen Angaben versucht, in 13 Ländern vom Irak über den Libanon bis zur Türkei für ein Ende der Migrantenflüge nach Belarus zu werben. Auf dem Radar der Kommission stünden darüber hinaus 19 weitere Staaten, sagte ein Sprecher der Behörde in Brüssel am Dienstag. Dazu gehören Syrien, der Jemen und Russland. Welche Länder Schinas zuerst kontaktieren wird, wollte die EU-Kommission am Dienstag nicht sagen.
Sollte die Mission erfolglos sein, könnten Fluglinien aus diesen Staaten mit Sanktionen belegt werden. Die rechtliche Grundlage dafür wollten die Botschafter der 27 EU-Staaten am Mittwoch in Brüssel legen. Die Diplomaten wollten den Katalog für mögliche Sanktionen gegen das Regime in Belarus um das Kriterium des Menschenschmuggels ergänzen, hieß es in Brüssel. Ein formaler Beschluss über neue Strafen könnte in wenigen Wochen erfolgen.
Im Visier der EU sind neben Fluglinien aus Drittstaaten wie der Türkei oder Katar auch die belarussische Fluggesellschaft Belavia. Sie hat einige ihrer Flugzeuge bei Unternehmen geleast, die ihren Sitz im EU-Mitgliedsland Irland haben. Unklar ist aber, ob solche Sanktionen kurzfristig wirken. Denn die Leasingverträge laufen zum Teil über zehn bis 15 Jahre. „Das ist juristisches Neuland“, hieß es in Brüssel. Sollte sich Belavia weigern, die Flüge einzustellen, liefen die Sanktionen mit hoher Wahrscheinlichkeit ins Leere.
Belarussische Oppositionspolitiker fürchten, dass sich der Konflikt an der belarussisch-polnischen Grenze militärisch ausweiten könnte. Vor dem Hintergrund, dass Belarus mit Russland in einer Union verbunden ist, die auch eine Verteidigungsgemeinschaft beinhaltet, könnte plötzlich auch Russland zum Akteur werden. „Ein Grenzkonflikt mit Polen könnte theoretisch schnell zu einem Bündnisfall eskalieren“, sagte der belarussische Oppositionspolitiker Alexander Piroschnikow dem RND.
Die Migrationskrise an der EU-Grenze ist vom belarussischen Diktator Lukaschenko organisiert worden, um die EU zu Verhandlungen zu zwingen.
Alexander Piroschnikow,
Belarussischer Oppositionspolitiker
„Die Migrationskrise an der EU-Grenze ist vom belarussischen Diktator Lukaschenko organisiert worden, um die EU zu Verhandlungen zu zwingen“, sagte Piroschnikow, der in Warschau die Denkfabrik Eastern European Strategic Forum (EESF) leitet. Lukaschenko setze offensichtlich darauf, dass die EU den Konflikt mit Russland fürchtet und deshalb früher oder später nachgibt, wenn der Druck weiter erhöht wird.
Der Oppositionelle Vadim Prokopjew hält es für möglich, dass ein Konflikt an der EU-Grenze sogar im Interesse von Russland liegt. Dadurch wäre ein Vorwand gegeben, um mit der russischen Armee bis zur belarussisch-polnischen Grenze vorzurücken, sagte Prokopjew, der früher Militär und Geschäftsmann in Belarus war, dem RND. „Eine Militärbasis in Belarus war schon immer ein wichtiges Ziel des Kreml“, erklärte Prokopjew.
Am 4. November hätten Russlands Präsident Wladimir Putin und Lukaschenko eine neue Militärdoktrin des Unionsstaates unterzeichnet, die viele unangenehme Überraschungen für die EU beinhalten könne. Diese Doktrin und ein von Lukaschenko orchestrierter Konflikt an der EU-Grenze könnten zum Vorwand für die Gründung neuer Militärzentren der russischen Armee werden, welche dann beispielsweise vom Norden die Ukraine bedrohen könnten, sagte Prokopjew.