Extremismus, Afghanistan, Bundestagswahl: Nachrichtendienste ziehen Bilanz und sehen Rechte als größte Gefahr
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/TMHZLZFLMRF3LGRSSQARBNAQAQ.jpg)
Im Europasaal des Deutschen Bundestages im Paul-Löbe-Haus stellten sich die Chefs der Nachrichtendienste des Bundes am Mittwoch den Fragen der Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums.
© Quelle: Felix Huesmann/RND
Berlin. Wenn die Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums (PKGr) des Deutschen Bundestages die Präsidenten und die Präsidentin der Nachrichtendienste des Bundes befragen, geht es normalerweise streng geheim zu. Einmal im Jahr ist das jedoch anders. Am Mittwoch tagte das Gremium, das den Bundesnachrichtendienst (BND), das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und das Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst (BAMAD) kontrolliert, zum fünften Mal öffentlich.
Durch diese seit 2017 einmal jährlich stattfindende öffentliche Anhörung solle die oft im Verborgenen stattfindende Arbeit der Dienste für die Bürgerinnen und Bürger transparenter und greifbarer werden, sagte der Vorsitzende des PKGr, Roderich Kiesewetter (CDU) – „auch wenn hier und heute natürlich keine Geheimnisse verraten werden dürfen“.
Rechtsextreme Netzwerke
Die Nachrichtendienste und auch ihre Kontrolleure – das ist kein Geheimnis – haben sich im vergangenen Jahr besonders mit der Bedrohung durch Rechtsextremisten beschäftigt. „Ich trage es wie ein Mantra vor mir her“, sagte Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang, „die größte Bedrohung für Sicherheit und Demokratie in Deutschland geht weiterhin vom Rechtsextremismus aus.“
Seine Behörde sehe rechtsextreme Netzwerke, in denen nicht selten auch Mitarbeiter von Sicherheitsbehörden oder der Streitkräfte vorzufinden seien. Mit Rechtsextremen in der Bundeswehr hat auch der Militärische Abschirmdienst viel zu tun, der erst am Dienstag seinen Bericht für das Jahr 2020 veröffentlicht hatte. Mehr als 80 Prozent der zu bearbeitenden Fälle im Bereich Extremismusabwehr in ihrem Amt seien dem Rechtsextremismus zuzuordnen, sagte die Präsidentin Martina Rosenberg.
Sie hatte die Leitung des Bundeswehr-Nachrichtendienstes im November 2020 übernommen, nachdem das Amt wegen einer lückenhaften Verfolgung rechtsextremer Soldaten in die Kritik geraten war. Die Behörde habe ein „turbulentes Jahr hinter sich“, sagte Rosenberg am Mittwoch. Sie hat einen Reformprozess im BAMAD angestoßen. Insbesondere soll das Amt nun enger mit dem Verfassungsschutz zusammenarbeiten. Dies gelinge bereits sehr gut, erklärten Rosenberg und Haldenwang. Doch erkennt das BAMAD wirklich alle Gefahren?
Neues Lagebild im Frühjahr 2022
Auch Rosenberg sprach am Mittwoch von rechtsextremen Netzwerken innerhalb der Bundeswehr. Ihr Amt habe bislang jedoch keine Netzwerke feststellen können, die zielgerichtet auf die Abschaffung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung hinarbeiteten.
Eine Bewertung, die beim Grünen-Abgeordneten und stellvertretenden Vorsitzenden des PKGr, Konstantin von Notz, auf Kritik stieß. Er verwies auf Todeslisten und Szenarien für einen „Tag X“, die auch von Soldaten erstellt und verbreitet worden waren, und auf entwendete Waffen und Munition. Es gebe rechtliche Defizite „in der Feststellung von Bestrebungen, die gegen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtet sind“, sagte von Notz nach der Anhörung. „Wir brauchen hier sehr klare Maßstäbe“, erklärte er.
Der Verfassungsschutz will im Frühjahr 2022 eine Neuauflage seines Lagebildes über Rechtsextreme in Sicherheitsbehörden vorlegen. Er rechne mit einem weiteren Anstieg der Zahlen, sagte Haldenwang. Das sei jedoch eine Scheinzunahme, die auf eine höhere Aufmerksamkeit und Sensibilisierung zurückzuführen sei. Durch eine gewachsene Bereitschaft, Vorfälle zu melden, würden auch mehr Fälle aufgedeckt. Auch BAMAD-Chefin Rosenberg führte gestiegene Zahlen bei der Bundeswehr auf einen Sensibilisierungseffekt zurück.
Auch der Islamismus beschäftigte den Verfassungsschutz und den Bundesnachrichtendienst zuletzt weiterhin. Nach dem Abzug der Bundeswehr schaue der BND weiterhin genau auf die Entwicklungen in Afghanistan, sagte Bruno Kahl, Präsident des Auslandsnachrichtendienstes. Terrorgruppen wie der IS profitierten von der Machtübernahme der Taliban und vor allem die Al-Kaida-nahe Szene weltweit feiere die Talibanregierung.
BND vor Umstrukturierung
Der BND müsse sich eingestehen, nicht mit einer derart schnellen Machtübernahme der Islamistenmiliz gerechnet zu haben. Die Gründe für diese falsche Bewertung würden derzeit untersucht. Künftig solle der BND einen stärkeren Fokus darauf legen, verschiedene mögliche Szenarien zu analysieren.
Der Dienst befindet sich derzeit ohnehin in einem Veränderungs- und Modernisierungsprozess. Statt elf eigenen Abteilungen soll der BND künftig nur noch aus fünf Abteilungen bestehen. Kahl sprach am Mittwoch von einer „strategischen Modernisierung“ des Dienstes. Zusätzlich ist der BND derzeit damit beschäftigt, die Einhaltung neuer Verpflichtungen aus dem BND-Gesetz umzusetzen. Das Gesetz, das den Dienst einer stärkeren Kontrolle unterzieht, wurde im März dieses Jahres verabschiedet und tritt am 1. Januar 2022 vollständig in Kraft.
Cyberangriffe und Spionage
Die Nachrichtendienste befassen sich nicht nur mit Extremismus, sondern auch mit Spionage und Versuchen ausländischer Geheimdienste, Einfluss auf den politischen Prozess in Deutschland zu nehmen. Im Vorfeld der Bundestagswahl hatte etwa eine Reihe von Cyberangriffen auf Bundestagsabgeordnete für erneutes Aufsehen gesorgt, für die die Bundesregierung Russland verantwortlich machte.
Es habe im Vorfeld der Bundestagswahl jedoch keine Desinformationskampagnen oder ähnliche Angriffe gegeben, die geeignet gewesen wären, das Wahlergebnis zu beeinflussen, sagte Haldenwang. Der Verfassungsschutz nehme Spionage- und Sabotagetätigkeiten „altbekannter Dienste“, aber auch neuerer Player wahr. Als besonders aktiv gelten die Geheimdienste Chinas und Russlands.
Das geheimdienstliche Geschehen sei in Teilen auch robuster geworden. Bestimmte Gruppierungen schreckten nicht davor zurück, Menschen zu entführen oder gar zu töten, sagte der Verfassungsschutzchef. Damit spielte Haldenwang auf die Entführung eines Vietnamesen in Berlin im Jahr 2017 und die Ermordung eines Georgiers ebenfalls in der Hauptstadt im Jahr 2019 an.