Europäischer Gerichtshof fällt wegweisendes Urteil zur Seenotrettung
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Die Besatzung der Sea-Watch 3 verteilt Rettungswesten an Menschen in einem Schlauchboot, mit dem sie versuchten, nach Europa zu gelangen (Archivbild).
© Quelle: Nora Boerding/Sea-Watch via AP/d
Brüssel. Es ist die gefährlichste Seegrenze der Welt: Nahezu täglich bergen zivile Seenotretter im Sommer Schiffbrüchige aus dem Mittelmeer, die mit seeuntauglichen Booten auf dem Weg von Nordafrika nach Europa sind. Vorvergangenes Wochenende waren es mehr als 500 Menschen, die in den Gewässern zwischen Libyen und Italien gerettet wurden.
Die italienischen Behörden machen es den Hilfsorganisationen dabei oft schwer, denn ihre Einsätze auf dem Mittelmeer sind in dem Land politisch sehr umstritten. Vor allem rechtspopulistische Parteien wie die Lega lehnen die Einsätze der Seenotretter ab.
Im Sommer 2020 eskalierte der Streit. Die italienischen Behörden setzten die deutschen Seenotrettungsschiffe Sea-Watch 3 und 4 über Monate hinweg in den Häfen von Palermo und Porto Empedocle fest und überprüften sie auf Mängel.
Zwei Millionen Geflüchtete brauchen permanente neue Heimat
Die meisten Umsiedlungen seien aus afrikanischen Ländern, dem Nahen Osten, Nordafrika und der Türkei nötig.
© Quelle: dpa
Sea-Watch klagte gegen italienische Behörden
Rettungsmissionen waren in dieser Zeit nicht möglich. Sea-Watch empfand das als Schikane und klagte. An diesem Montag fällt dazu ein wegweisendes Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg.
Die Begründung der Hafenbehörden für die Festsetzung der Schiffe lautete: Die Sea-Watch-Schiffe hätten mehr Schiffbrüchige an Bord genommen, als ihre Zertifizierung als sogenannte Mehrzweckfrachtschiffe es erlaube. Außerdem gaben die Behörden an, dass es technische Mängel an den Schiffen gebe. Auch habe es nicht genügend Duschen und Toiletten für die Passagiere gegeben. Zudem seien die Schiffspapiere nicht in Ordnung gewesen.
Im Zentrum des Rechtsstreits steht die Frage, ob die italienischen Behörden ihre Kompetenzen überschritten haben. Geht es nach dem Generalanwalt beim EuGH, dann sind behördliche Kontrollen auch bei Seenotrettungsschiffen grundsätzlich möglich.
Generalanwalt fordert, dass Kontrollen nicht die Pflicht zur Seenotrettung beeinträchtigen
In seinem Vorschlag für ein Urteil des höchsten Gerichts in der EU erklärte der Generalanwalt am EuGH im Februar: Auch ein Schiff, das systematisch zur Seenotrettung eingesetzt werde, könne von den Behörden kontrolliert werden. Wenn es Mängel gebe, die eindeutig eine Gefahr für die Sicherheit, die Gesundheit oder die Umwelt seien, dann könne das eine zusätzliche Überprüfung rechtfertigen. Allerdings dürften die Kontrollen nicht dazu führen, dass die Pflicht zur Seenotrettung beeinträchtigt werde, heißt es in dem sogenannten Schlussantrag. Das internationale Seerecht schreibt vor, dass Kapitäne Schiffbrüchige an Bord nehmen müssen.
Die Auffassung des Generalanwalts wurde als Dämpfer für Sea-Watch verstanden. Die EuGH-Richter müssen sich bei ihrer Entscheidung, die an diesem Montag um 9.30 Uhr veröffentlicht werden soll, nicht an die Empfehlung des Generalanwalts halten. Sie orientieren sich aber in der Regel daran.
Der Grünen-Europaabgeordnete Erik Marquardt ist in der Vergangenheit mehrfach auf zivilen Seenotrettungsschiffen im Mittelmeer mitgefahren und hat Schiffskontrollen in italienischen Häfen miterlebt. „Ich bin mir sehr sicher, dass die Kontrollen politisch motiviert waren“, sagte Marquardt dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
„Die Behörden wissen, dass Menschen aus Seenot gerettet werden müssen. Das schreibt das Völkerrecht vor. Also versuchen sie, die zivilen Seenotretter zu schikanieren, um sie von ihren Einsätzen abzuhalten.“
Grünen-Europaabgeordneter Erik Marquardt
Er warf den Behörden in Italien eine perfide Taktik vor. „Die Behörden wissen, dass Menschen aus Seenot gerettet werden müssen. Das schreibt das Völkerrecht vor. Also versuchen sie, die zivilen Seenotretter zu schikanieren, um sie von ihren Einsätzen abzuhalten.“ Die Sicherheitsaspekte bei den Kontrollen in den Häfen seien „offensichtlich vorgeschoben, weil man nicht offen sagen will, dass man eine menschenrechtsfeindliche Migrationsabwehr durchsetzen will“.
EU finanziert libysche Küstenwache – die selbst wohl keine Kontrolle überstünde
Marquardt erwartete, dass die Seenotrettung in den nächsten Wochen zu einem Thema im italienischen Wahlkampf wird. „Die Populisten werden sich das nicht entgehen lassen“, sagte der Europapolitiker. Nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Mario Draghi finden in Italien im Herbst Neuwahlen statt. In den Umfragen liegt derzeit die rechtspopulistische Partei Fratelli d’Italia vorne. Sie könnte möglicherweise zusammen mit der Lega eine neue Regierung bilden.
Nach Ansicht Marquardts muss sich auch die EU-Kommission in den Streit um die Seenotrettung einschalten. „Die libysche Küstenwache wird mit EU-Geldern finanziert, doch für die zivilen Seenotretter hat die EU keinen einzigen Cent übrig. Die Hilfsorganisationen werden sogar in ihrer Arbeit behindert. Das ist absurd.“ Die libysche Küstenwache würde keine der Kontrollen bestehen, sagte Marquardt weiter: „Sie hat oft nicht einmal Schwimmwesten dabei.“