Erdogan unter Druck

Der Machtpoker nach dem Beben

Türkische Flaggen wehen nach dem verheerenden Erdbeben auf Halbmast.

Türkische Flaggen wehen nach dem verheerenden Erdbeben auf Halbmast.

Auffallend früh, schneller als andere EU-Staaten, reagierte die Regierung in Athen auf das Beben im Nachbarland Türkei. „Griechenland wird sofort helfen“, erklärte Regierungschef Kyriakos Mitsotakis.

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Hilfe aus Griechenland? Für die Türkei? Das steht quer zu den gerade erst verkündeten, in der Türkei noch nachhallenden Hassreden von Recep Tayyip Erdogan. Der türkische Staatschef will am 14. Mai wiedergewählt werden und setzte in seinem Wahlkampf bislang auf Nationalismus pur.

Zuletzt ließ Erdogan einen seit Langem schwelenden Streit mit Athen um Gasbohrrechte im Mittelmeer eskalieren. Er drohte dem Nachbarland, das wie die Türkei der Nato angehört, mit einem Raketenangriff: „Legt euch nicht mit uns an“, warnte Erdogan die griechische Regierung im Dezember bei einem öffentlichen Auftritt in der südosttürkischen Stadt Mardin. Jubelnden Anhängern rief Erdogan mit Blick auf Athen zu: „Wenn die sich weiterhin danebenbenehmen, werden wir eines Nachts kommen.“

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Vorbild: Erdbebendiplomatie von 1999

Das Beben vom 6. Februar 2023 hat nun über Nacht die politischen Prioritäten verschoben. Dass „die Türken kommen“, fürchtet aktuell in Griechenland kaum noch jemand. Viele Türkinnen und Türken indessen hoffen, dass jetzt „die Griechen kommen“ – möglichst gleich mit Suchmannschaften, Spürhunden und Blutspenden.

Ähnlich lief es schon einmal in der bewegten Geschichte der beiden Völker. Im Sommer 1999 stieß eine Serie von Beben die sogenannte griechisch-türkische Erdbebendiplomatie an. Eine Phase pragmatischer Zusammenarbeit begann.

Tausende Tote nach Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien
Die Zahl der Toten wächst stündlich. Zwei verheerende Erdbeben im Südosten der Türkei haben auch Städte und Dörfer im Norden Syriens zerstört.

Zahlreiche Länder sagten Unterstützung zu, auch aus Deutschland machten sich inzwischen Hilfsteams auf den Weg.

Für die Nato wäre jetzt die Wiederkehr solchen Denkens ideal. In der Zentrale der Allianz allerdings trauen viele Erdogan so etwas nicht mehr zu. Bereits in letzter Zeit, heißt es in Brüssel, sei es immer schwerer geworden, den eigensinnigen türkischen Präsidenten noch für den Gedanken von so etwas wie Bündnissolidarität zu gewinnen. Kopfschüttelnd verfolgten die USA, wie Erdogan ein Flugabwehrsystem in Russland kaufte. Aktuell nervt Erdogan den Rest des Bündnisses vor allem durch sein starrsinniges Nein zum Nato-Beitritt Schwedens, das nach seiner Ansicht kurdischen Terroristen Unterschlupf bietet.

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Der einzige positive Ansatzpunkt, heißt es in Brüssel, bleibe „Erdogans Basar-Mentalität“: Für ein wie auch immer definiertes Geben und Nehmen sei der Mann in Ankaras Präsidentenpalast offenbar weiterhin zu haben.

Erdogan wird unter Druck geraten

Niemand redet laut über eine Verknüpfung von westlichen Hilfen für und westlichen Bitten an die Türkei. Offiziell wird es so etwas auch nicht geben. Doch bereits am Montag fiel auf, dass für die USA nicht etwa die staatliche Hilfsagentur USAID zur Lage in der Türkei Stellung nahm, sondern Joe Bidens Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan – der gleiche Mann, der Erdogans Streit mit Schweden zu Ende bringen und die Nato-Norderweiterung unter Dach und Fach bringen soll.

Hinter den Kulissen wird bereits diskutiert, wie ein neuer Deal mit Erdogan aussehen könnte. Fest steht bislang nur eins: Die Nato-Staaten legen durch ihre Bereitschaft zu massiver Hilfe viel auf die Waagschale – und haben dabei nach Ansicht von Insidern bessere Chancen denn je, an vielen Stellen dämpfend auf Erdogan einzuwirken. Vier Punkte aus den derzeit laufenden inoffiziellen Debatten werden genannt:

  • Ein erster wichtiger Schritt sei es, Erdogan die von ihm noch für die Zeit vor den Wahlen geplanten neuen Attacken auf kurdische Kämpfer im Norden Syriens auszureden. Man könne jetzt keine weitere Krise gebrauchen, heißt es in Nato-Kreisen.
  • Im zweiten Schritt müsse „die gesamte humanitäre Lage in der Region“ ins Auge gefasst werden. Schwer vorstellbar sei beispielsweise, dass jetzt womöglich das deutsche Technische Hilfswerk die Wasserversorgung für erdbebengeschädigte türkische Regionen nahe Syrien wiederherstelle – von denen aus dann aber wie bisher die Wasserversorgung in nahegelegenen syrischen Gebieten wie etwa in der Stadt Hasaka im Nordosten aus politischen Gründen gezielt blockiert werde.
  • In der syrischen Provinz Idlib treffen die Folgen des Bebens – geplatzte Leitungen, blockierte Straßen, Stromausfälle – drei Millionen Menschen, die ohnehin schon unter katastrophalen Bedingungen leben. Die Vereinten Nationen sehen hier eine sogenannte „Lebensmittelunsicherheit“, die sich zu einer Hungersnot ausweiten könne. Der syrischen Regierung, die in Idlib gewaltbereite Regimegegner vermutet, ist das egal. Sie will Idlib im Zweifel aushungern und hat dabei auch die russische Regierung an ihrer Seite. Die Türkei indessen könnte den internationalen Hilfsorganisationen von Norden her auf Dauer deutlich bessere Zugänge nach Idlib verschaffen.
Wie weiter im Norden Syriens? Retter suchen am 6. Februar nach Erdbebenopfern in Tamanin in der Region Idlib.

Wie weiter im Norden Syriens? Retter suchen am 6. Februar nach Erdbebenopfern in Tamanin in der Region Idlib.

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  • Dem Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands soll Erdogan spätestens bis zum nächsten Nato-Gipfel am 11. Juli in Vilnius zustimmen. Unausgesprochen scheint sich die Allianz damit abgefunden zu haben, dass Erdogan wohl vor der Präsidentschaftswahl Mitte Mai seine Meinung nicht mehr ändert. Im Augenblick ist die Türkei noch nicht komplett isoliert: Die Zustimmung des ungarischen Parlaments wird bis Ende März erwartet.
  • Gleichsam als Belohnung könnten die USA die von Erdogan gewünschten F16-Kampfflugzeuge liefern, deren Export in die Türkei nach jetzigem Stand keine Zustimmung im US-Kongress finden würde.

Schöne Grüße aus Schweden

Bei aller Trauer angesichts des Verlusts von Menschenleben in der Türkei wird dem türkischen Präsidenten dieser Machtpoker nach dem Beben nicht erspart bleiben. Für den hier und da drohenden Gesichtsverlust ist Erdogan selbst verantwortlich.

Mit dem griechischen Premier Mitsotakis, pöbelte Erdogan im vorigen Jahr, wolle er nie wieder sprechen: „Er existiert für mich nicht mehr.“ Auch Schweden schrieb er schon ab: Da man dort den Koran verbrennen dürfe – „mein heiliges Buch“– komme seine Zustimmung zum Nato-Beitritt generell nicht infrage.

Einfluss hier, Einfluss da: Schwedens Ministerpräsident Ulf Kristersson,  neuerdings Ratspräsident der EU, und der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan (rechts) bei einem Treffen im November in Ankara.

Einfluss hier, Einfluss da: Schwedens Ministerpräsident Ulf Kristersson, neuerdings Ratspräsident der EU, und der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan (rechts) bei einem Treffen im November in Ankara.

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Nato-Anwärter Schweden übrigens führt gerade, so will es der Turnus, den Vorsitz in der EU. Noch bis Ende Juni redet Schwedens Premier Ulf Kristersson bei gesamteuropäischen Hilfen für die Türkei ein wichtiges Wort mit – nicht erst bei Tempo, Art und Umfang möglicher künftiger Programme, sondern schon bei der Frage, was wann auf die Tagesordnung der EU kommt.

Natürlich würde Kristersson niemals Zusammenhänge herstellen, wo es offiziell keine gibt. Er habe Erdogan sein Beileid ausgedrückt, schrieb Kristersson am Montag – und fügte mit skandinavischer Kühle hinzu: „Wir bieten Unterstützung an – als Partner der Türkei und als das Land, das die EU-Ratspräsidentschaft innehat.“

Bei diesen schönen Grüßen aus Schweden schwingt eine selbstbewusste Botschaft mit: Ja, Erdogan hat Einfluss auf Schweden – doch mehr denn je hat derzeit auch Schweden Einfluss auf die Türkei.

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