Energiepauschale, Strompreisbremse, Nachfolger für das 9-Euro-Ticket: Darauf hat sich die Koalition geeinigt
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Omid Nouripour, Bundesvorsitzender Bündnis90/Die Grünen, Olaf Scholz, Bundeskanzler, Christian Lindner, Parteivorsitzender FDP und Bundesfinanzminister, Saskia Esken, Parteivorsitzende SPD, erläutern das neue Entlastungspaket.
© Quelle: IMAGO/Chris Emil Janßen
Berlin. Christian Lindner stockt sichtlich kurz der Atem. Grünen-Parteichef Omid Nouripour hat in der gemeinsamen Pressekonferenz im Kanzleramt gerade seine Sicht auf die Ergebnisse des Koalitionsausschusses dargelegt und dabei einen „wichtigen Satz“ des Finanzministers zitiert. „Auf unser Land rollt eine Lawine zu“, habe Lindner gesagt. Der FDP-Chef rollt mit den Augen. Das war mehr, als er nach draußen dringen lassen wollte. Die Regierung soll doch Ruhe vermitteln und nicht Angst schüren. Eine Lawine aber ist schwer zu stoppen. Ohne Verluste wird es nicht gehen.
22 Stunden Verhandlungen
In Deutschland wird es ein Wohlstandsverlust sein - im russischen Krieg gegen die Ukraine, der die Ursache der jetzigen Wirtschafts- und Energiekrise in Europa ist, verlieren Menschen dagegen ihr Leben. Diesen Unterschied versuchen Bundeskanzler Olaf Scholz, die SPD-Vorsitzende Saskia Esken, Nouripour und Lindner immer wieder deutlich zu machen, als sie nach einer Mütze Schlaf am Sonntagvormittag das dritte Entlastungspaket präsentieren.
Rund 22 Stunden haben sie verhandelt. Herausgekommen ist ein Volumen von 65 Milliarden Euro, doppelt so viel wie die ersten beiden Entlastungspakete zusammen. Eigentlich wollte die Ampel keine Nachtsitzungen mehr. Die Terminkalender der Politiker sind randvoll, Schlafentzug schwächt die Konzentration. Zuletzt hatte Scholz unmittelbar nach einer anstrengenden Kanada-Reise den Palästinenser-Präsidenten Mahmud Abbas empfangen und eine Sekunde zu lang gezögert, um dessen ungeheuerliche Attacken gegen Israel als haltlos zurückzuweisen. Diesmal werden immerhin Termine gecancelt. Lindner fliegt nicht wie geplant nach Israel, Scholz sagt eine Pressekonferenz mit dem ukrainischen Ministerpräsidenten ab.
„Deutschland steht zusammen“
„Deutschland steht zusammen“, steht über dem 13-seitigen Papier. Dass die Ampel-Parteien in diesen 22 Stunden selbst ganz schön auseinander gedriftet sein müssen, bevor sie Kompromisse schlossen, lässt ebenfalls Nouripour durchblicken. „Zeitweise aufreibend“ sei es gewesen, berichtet er. „Wir sind erschöpft als Grüne, aber ich glaube, es geht nicht nur uns so.“ Und: „Alle mussten einen weiten Weg gehen für einen großen Sprung.“
Eine Übersicht, über die Beschlüsse, die Sozialverbände und Gewerkschafter postwendend nicht als großen Sprung werteten:
Einmalzahlung für Ruheständler: Anders als erwartet gibt es für die Beschäftigten keine weitere Direktzahlung zum Ausgleich der hohen Energiepreise. Dafür sollen nun Rentnerinnen und Rentner Geld bekommen: Sie erhalten 300 Euro, die ab 1. Dezember ausgezahlt werden. Der Betrag muss ebenso versteuert werden wie die bereits beschlossene Einmalzahlung von 300 Euro für alle aktiven Erwerbspersonen, die in der Regel mit dem Septembergehalt überwiesen wird. Auch Pensionärinnen und Pensionäre des Bundes erhalten die neue Direktzahlung. Die Entlastung wird mit insgesamt 6 Milliarden Euro beziffert.
Einmalzahlung für Studierende: Alle Studentinnen und Studenten sowie Fachhochschülerinnen und Fachhochschüler bekommen eine Einmalzahlung in Höhe von 200 Euro. Der Bund trägt die Kosten. Die Modalitäten der Auszahlung müssen noch festgelegt werden.
Wohngeld: Das Wohngeld wird zum 1. Januar 2023 um eine dauerhafte Klima- und Heizkostenkomponente erweitert, um die Energiepreise abzufedern. Details sind offen. Zudem soll der Kreis der bezugsberechtigten Haushalte von 700.000 auf zwei Millionen deutlich erweitert werden. Auch hier fehlen noch Details zu den Einkommensgrenzen. Unabhängig davon soll im Dezember ein weiterer Heizkostenzuschuss gezahlt werden, und zwar 415 Euro für einen Einpersonenhaushalt und 540 Euro für einen Zweipersonenhaushalt. Für jede weitere Person kommen 100 Euro hinzu.
Bürgergeld: Das Arbeitslosengeld II und vergleichbare Sozialleistungen werden wie geplant vom neuen Bürgergeld abgelöst. Künftig soll bei der Anpassung des Satzes die für das aktuelle Jahr erwartete Inflation einbezogen werden. Bisher gilt ausschließlich die Teuerungsrate des zurückliegenden Jahres. Damit wird zum 1. Januar 2023 begonnen. Der Regelsatz soll dann „auf etwa 500 Euro“ angehoben werden.
Kindergeld: Die bisher geplanten Erhöhungsschritte für 2023 und 2024 werden zusammengefasst. Zum 1. Januar 2023 steigt das Kindergeld damit für das erste und zweite Kind um 18 Euro auf dann 237 Euro. Der Höchstbetrag des Kinderzuschlags für Familien mit niedrigem Einkommen wird zum 1. Januar 2023 von aktuell 229 auf 250 Euro angehoben.
Bundeskanzler Scholz: Wollen gemeinsam durch diese schwierige Zeit kommen
Das von den Spitzen der Koalition aus SPD, Grünen und FDP vereinbarte dritte Entlastungspaket soll Maßnahmen im Volumen von über 65 Milliarden Euro umfassen.
© Quelle: Reuters
Midijobs: Die Einkommensgrenze für die Beschäftigung in sogenannten Midijobs, bei denen verringerte Sozialbeiträge gelten, wird zum 1. Januar 2023 auf 2000 Euro angehoben. Wie geplant steigt sie zunächst zum 1. Oktober von 1300 auf 1600 Euro. Die Regierung spricht von einer Entlastung in Höhe von 1,3 Milliarden Euro.
Kalte Progression: Bei der Einkommenssteuer wird ab 2023 die kalte Progression ausgeglichen. Sie entsteht, wenn Lohnsteigerungen durch die Preissteigerung aufgefressen werden. Dann müssen höhere Steuern bezahlt werden, obwohl die Kaufkraft gar nicht gestiegen ist. Konkret sollen die Tarifeckwerte der Einkommenssteuertarife an die Inflationsrate angepasst werden. Dadurch werden die Steuerzahler und Steuerzahlerinnen nach früheren Angaben von Lindner 2023 um mindestens zehn Milliarden Euro entlastet. Bei diesem Punkt hat sich der Finanzminister klar gegen die Grünen durchgesetzt, die eine derartige Entlastung abgelehnt hatten.
Homeoffice-Pauschale: Die in der Corona-Pandemie eingeführte, von der Steuer absetzbare Homeoffice-Pauschale von 5 Euro am Tag (maximal 600 Euro im Jahr) wird dauerhaft entfristet. Sie sollte bisher nur bis Ende 2022 laufen.
Absetzbarkeit von Rentenbeiträgen: Bestätigt wurde die Absicht Lindners, dass bereits ab dem 1. Januar 2023 die Rentenbeiträge voll steuerlich abgesetzt werden können – zwei Jahre früher als bisher geplant.
Lohnsteigerungen: Einigen sich die Tarifpartner auf zusätzliche Zahlungen, kann ein Betrag von bis zu 3000 Euro steuer- und abgabenfrei ausgezahlt werden. Das geht auf einen Vorschlag von Kanzler Scholz zurück, den Lindner zunächst abgelehnt hatte
Nachfolge des 9‑Euro-Tickets: Der Bund ist bereit, ein bundesweites Nahverkehrsticket mit zusätzlich 1,5 Milliarden Euro zu unterstützen, wenn die Länder mindestens den gleichen Betrag zur Verfügung stellen. Ziel sei ein „preislich attraktives“ Ticket in der Spanne zwischen 49 und 69 Euro. Lindner hatte die insbesondere von den Grünen geforderte Nachfolgeregelung lange abgelehnt.
Kurzarbeitergeld: Die in der Corona-Pandemie eingeführten Sonderregelungen werden über den 30. September 2022 hinaus verlängert.
Umsatzsteuer in der Gastronomie: Die Absenkung der Umsatzsteuer für Speisen in der Gastronomie auf 7 Prozent wird verlängert, um die Inflation nicht weiter zu befeuern.
Strompreisbremse: Es soll für eine bestimmte Strommenge („Basisverbrauch“) ein gedeckelter Preis gelten. Details wurden nicht genannt. Die Kosten sollen durch eine teilweise Abschöpfung sogenannter Zufallsgewinne finanziert werden. Das sind Profite, die die Produzenten von Öko, Atom-, und Kohlestrom erwirtschaften, wenn der Strompreis von (teuren) Gaskraftwerken bestimmt wird. Das ist letztlich ein Kompromiss im Streit über eine Übergewinnsteuer. Sie war von SPD und Grünen gefordert, aber von der FDP strikt abgelehnt worden.
Gaspreisbremse: Dazu gibt es anders als erwartet keine konkreten Pläne. Es wird zunächst eine Expertenkommission eingesetzt, die prüfen soll, ob und wenn ja wie ein preislich gedeckeltes Grundkontingent pro Haushalt für das Heizen überhaupt möglich ist.
Entlastung beim Gaspreis: Die eigentlich zum 1. Januar 2023 geplante weitere Anhebung des Preises für CO₂-Emissionen um 5 auf 35 Euro pro Tonne wird um ein Jahr verschoben. Auch alle weiteren Erhöhungsschritte verschieben sich entsprechend um ein Jahr.
Schutz von Mieterinnen und Mieter: Mietende, die ihre Nebenkosten nicht zahlen oder Vorauszahlungen nicht leisten können, sollen durch Änderungen im Mietrecht „angemessen“ geschützt werden. Details wurden nicht genannt. Sperrungen von Strom und Gas sollen durch sogenannte Abwendungsvereinbarungen verhindert werden. Hierzu soll das Energierecht entsprechend angepasst werden.
Finanzierung: Die Entlastungen von insgesamt rund 65 Milliarden Euro werden nach Angaben von Lindner ohne Nachtragshaushalt für 2022 und ohne erneute Verletzung der Schuldenbremse 2023 finanziert. Ein Volumen von mehr als 30 Milliarden Euro unter anderem für den Ausgleich der kalten Progression, für das Bürger- und das Wohngeld hat Lindner bereits eingeplant. Neu hinzu kommen 32 Milliarden Euro. Sie können laut Finanzminister durch bisher nicht genutzte Reserven und durch steigende Steuereinnahmen infolge der Inflation finanziert werden. Zudem bietet die Schuldenbremse 2023 größere Spielräume, weil die sogenannte Konjunkturkomponente wegen der schlechteren Wirtschaftslage etwas größer ist.
„Der Lage angemessen reagieren“
Auf die Frage, ob er mit Massenprotesten wegen der hohen Energiepreise und der Inflation rechne, sagte Kanzler Scholz auf der Pressekonferenz: „Wenn einige damit nicht einverstanden sind und die Formeln von Putin rufen, dann sind es eben einige.“ Nach Ansicht des Kanzlers sind das keine Massen. Lindner sagt, die Ampel werde auch in Zukunft „der Lage angemessen“ reagieren. Das dritte Entlastungspaket dürfte nicht das letzte sein.
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