„Die Krise ist unerlässlich für das Verständnis der Welt“
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„Die Finanzkrise war ein Erdbeben“: Am 15. September 2008 musste die Lehman Brothers in New York Pleite anmelden – Börsenhändler waren schockiert.
© Quelle: Picture Alliance
Herr Tooze, vor zehn Jahren, am 15. September 2008, musste die US-Investment-Bank Lehman Brothers Insolvenz beantragen. Es war der Beginn der Finanzkrise. Ihr Buch über diese Krise nennen Sie im Untertitel „Wie ein Jahrzehnt Finanzkrise die Welt verändert hat“. Wie hat sie die Welt denn verändert?
Zum einen haben viele Familien und Unternehmen auf beiden Seiten des Atlantiks großen Schaden erlitten, und dieser Schaden ist dauerhaft. Zehn Millionen amerikanische Familien haben ihre Häuser verloren. Schauen Sie sich Spanien, Italien oder Griechenland an, dort hat eine ganze Generation junger Europäer keinen Zugang zum Arbeitsmarkt. Das ist eine Entwicklung, die langfristige Folgen haben wird. Oder denken Sie an die afroamerikanische Gemeinschaft in den USA. Manche Communitys in den USA etwa werden sich von der Finanzkrise über Jahrzehnte nicht erholen. Die Krise war ein Schock, der die schwächsten Volkswirtschaften und schwächsten sozialen Gruppen traf. Im ökonomischen Bereich zeigen sich die Folgen der Finanzkrise bis heute in den Bilanzen der Zentralbanken und in den extrem niedrigen Zinsen.
Und wie sieht es mit den politischen Folgen aus?
Die Finanzkrise und die ökonomischen, politischen und geopolitischen Reaktionen darauf sind unerlässlich für das Verständnis der heutigen Welt. Das Gleichgewicht der Weltordnung, die sich nach dem Kalten Krieg manifestiert hatte, wurde seit 2008 grundlegend erschüttert. So wurde Amerikas Politik durch die Krise der Republikanischen Partei destabilisiert. Auch Europa ging stark geschwächt aus der Finanzkrise hervor. Besonders betroffen war Osteuropa, in Ungarn und der Ukraine waren die Folgen besonders dramatisch. In der Zwischenzeit konnte China kurz nach der Krise ein schnelles Wirtschaftswachstum verzeichnen, das durch ein riesiges Konjunkturprogramm angetrieben wurde. Aber wir wissen immer noch nicht, ob Peking am Ende auch eine sanfte Landung organisieren kann.
Was hat die Finanzkrise mit dem Wahlsieg Donald Trumps zu tun?
Als Folge der Finanzkrise 2008 spaltete sich die republikanische Partei in eine globalistische Elite um US-Präsident George W. Bush und eine nationalistische, ausländerfeindliche Massenbasis auf. Diese Tea-Party-Bewegung öffnete die Tür zu Donald Trump. Die Mobilisierung der Tea Party 2009 ist der direkte Vorläufer seiner Alt-Rechts-Mobilisierung, Sarah Palin war sein Vorgänger.
Und was ist mit dem Aufstieg der Populisten in Europa?
Ich finde „Populismus“ keine sehr nützliche Bezeichnung für die Entwicklungen in der europäischen Politik. Die Finanzkrise war ein Erdbeben. Ihre Auswirkungen hängen von der Architektur und Solidität der jeweiligen nationalen politischen Systeme ab. Man muss das von Fall zu Fall betrachten: In den südeuropäischen Staaten, in Spanien etwa, führte die Massenarbeitslosigkeit zu einer starken Verlagerung hin zur politischen Linken. In Frankreich verursachte das Elend, das die Politik der Eurozone zu verantworten hat, eine Verlagerung der Stimmen der Arbeiterklasse zum Front National. In Ungarn führten 2010 die Finanzkrise und das IWF-Programm von 2008 direkt zum Sieg von Fidesz und Viktor Orbán. In Deutschland wurde 2013 die AfD gegründet, um gegen Angela Merkels Kompromisse mit der Eurozone zu protestieren. In Großbritannien verlor die EU an Beliebtheit und verstärkte die Angst vor Migration – mit dem Brexit als Folge. Es gibt keine einfache Erklärung. Es gab einen gemeinsamen Schock mit unterschiedlichen Folgen.
War die Finanzkrise, wie oft dargestellt, eine rein amerikanische oder angelsächsische?
Nein. Die Immobilienblasen in Irland, Spanien und Großbritannien platzten zur selben Zeit wie die in den USA. Die Krise war eine nord-atlantische Krise, mit globalen Folgen. Die europäischen Banken waren stark an der Finanzierung des US-Booms und des heimischen Booms in Europa beteiligt. Als die Finanzkrise begann, wurden der globale Handel und die globale industrielle Produktion hart getroffen. Deshalb entfiel auch mehr als die Hälfte der Liquiditätsunterstützung der US-Notenbank für das globale Bankensystem auf Europa und Asien.
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Am 5. Oktober 2008 verkündeten Merkel und Steinbrück in Stunden höchster Anspannung eine gewaltige Garantie: Die Spareinlagen der Bürger sind, trotz der Finanzkrise, weiter sicher.
© Quelle: dpa/Pool
Das heißt, Sie sagen, die Strategien zur Krisenbewältigung haben funktioniert?
Ja, die unmittelbaren Kriseninterventionen haben funktioniert. Die wichtigsten Akteure waren die Fed und das US-Finanzministerium. Der damalige deutsche Finanzminister Peer Steinbrück hingegen hat angesichts der Schwere der Krise zu langsam reagiert, anstatt zusammen mit den europäischen Partnern an einer gemeinsamen Lösung der Krise zu arbeiten. Schnell hat er nur den Amerikanern die Schuld gegeben.
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Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze beschreibt in seinem neuen Buch „Crashed“ (Siedler, 800 Seiten, 38 Euro) die Ursachen und Folgen der Finanzkrise von 2008
© Quelle: Siedler
Was bedeutete die Finanzkrise für Europa und speziell für Deutschland?
Die Finanzkrise von 2008 verwandelte sich 2010 in die Krise der „Eurozone“. Es war die Krise von 2008, die Griechenland über den Rand kippen ließ. Es war die Krise von 2008, die die riesigen Miseren in Irland und Spanien auslöste, die sich in Staatsschuldenkrisen verwandelten. Auch für die deutschen Banken war 2008 ein existenzieller Schock. Ohne die Liquiditätsunterstützung durch die US-Notenbank Fed hätten selbst die größten und stärksten Banken nicht überlebt. Viele deutsche Landesbanken waren tief in die Krise in den USA verstrickt. Als die Finanzkrise zu einer echten wirtschaftlichen Rezession wurde, war der Schaden für die deutsche Wirtschaft riesig. Der Rückschlag für das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2008 war der härteste in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Kritiker haben oft moniert, dass mit Steuergeld Banken gerettet wurden. Was wäre denn passiert, hätte niemand eingegriffen?
Der schlimmste Fall wäre ein totaler Zusammenbruch des Finanzsystems auf beiden Seiten des Atlantiks innerhalb weniger Wochen gewesen. Die Folgen für die Realwirtschaft wären verheerend gewesen: Hohe Arbeitslosigkeit und noch schlimmere Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen. Die Tatsache, dass die damaligen Rettungspakete geschmacklos waren, sollte nicht dazu führen, dass man diese Rettungspakete ablehnt. Es sollte vielmehr dazu führen, dass man radikale Konsequenzen wie die Strafverfolgung der Verantwortlichen, eine dramatische Umstrukturierung des Bankensystems oder eine wirklich eindringliche neue Regulierung fordert.
Vor der Finanzkrise galt die Auffassung: Der Markt regelt alles. Hat sich dieses Denken mit der Finanzkrise geändert?
„Der Markt regelt alles“ ist eindeutig eine gefährliche und simple Illusion. Aber Märkte sind nicht das Problem schlechthin. Das Problem sind gigantische und höchst instabile Banken. Das Problem sind riesige Unternehmen und die Produkte, die sie vertrieben, nicht die Märkte an sich, die ja eigentlich eine zügelnde Funktion ausüben. Diese Unternehmen müssen regiert und kontrolliert werden.
Kann eine solche Krise wieder passieren?
Es kann nicht ausgeschlossen werden, aber es ist sehr unwahrscheinlich. Die Krise von 2008 war wirklich einmalig in der Geschichte, dramatischer und umfassender als die Weltwirtschaftskrise von 1929. Aber andere Arten von Katastrophen sind sehr wahrscheinlich in der Zukunft. Die Hauptquellen neuer Risiken sind in den Schwellenländern zu finden. China ist das eigentliche Problem für die Weltwirtschaft. Denn Chinas Wirtschaft ist mittlerweile sehr stark mit dem Westen verbunden. Wie eine Krise in China gemeistert werden würde, das ist eine große Frage der Zukunft.
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Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze
© Quelle: Malene Korsgaard Lauritsen
Von Kristian Teetz