Die EU muss sich reformieren – sonst geht sie unter
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Europaflaggen wehen vor der Europäischen Kommission in Brüssel.
© Quelle: Daniel Kalker/picture alliance
Brüssel. Es war ein sensationelles Demokratieexperiment. Ein Jahr lang haben 800 Bürgerinnen und Bürger aus der EU mit Experten und Politikern auf der sogenannten „Konferenz zur Zukunft Europas“ diskutiert. Nun haben sie ihre Empfehlungen vorgelegt. Sie sollen aus der starren, viel zu oft dysfunktionalen EU ein demokratischeres, bürgernäheres und effizienteres Gebilde machen. Es ist ein Bauplan für ein stärkeres und besseres Europa in einer Welt, in der sich Krisen wie Putins Angriffskrieg, die Pandemie und die Erderwärmung zu einem Gefahrenknäuel formen.
Einer der wichtigsten Vorschläge ist zugleich einer der schwierigsten, wenn es um die Umsetzung geht. Die einzelnen Mitgliedsstaaten sollen ihr Vetorecht verlieren. Würde das geschehen, dann würde die EU einen gewaltigen Schritt nach vorne machen.
Das Einstimmigkeitsgebot lähmt
Denn nichts im komplexen EU-Betrieb ist so lähmend wie das Einstimmigkeitsgebot. Das ist nicht auf die Außenpolitik beschränkt, zeigt sich dort aber besonders deutlich. Ungarn etwa will die Ölsanktionen gegen Russland nur mittragen, wenn es an anderer Stelle belohnt wird. Das ist ein unwürdiges Schachern, aber keine zielgerichtete Politik der 27 Mitgliedsstaaten. Das Problem wäre gelöst, wenn eine qualifizierte Mehrheit ausreichte, um zum Beispiel Sanktionen zu verhängen.
Leider ist es unwahrscheinlich, dass die Idee von Mehrheitsvoten Realität wird. Denn dazu bräuchte es wiederum einen einstimmigen Beschluss aller Mitgliedsstaaten – und es zeichnet sich nicht ab, dass etwa Ungarn auf das komfortable Vetorecht verzichten wird. Das gilt übrigens an anderer Stelle auch für Deutschland. Kaum vorstellbar, dass die Bundesregierung ein Mehrheitsvotum in der europäischen Steuerpolitik abnicken würde.
Dennoch ist es existenziell wichtig, die Debatte jetzt fortzuführen und solange zu verhandeln, bis das starre EU-System verändert ist. Die EU muss sich reformieren, sonst wird sie untergehen. Das haben die Menschen erkannt, die sich an der Konferenz beteiligt haben.
Der Ukraine-Krieg löst Handlungsdruck aus
Schon am Montag wird sich im Ansatz zeigen, wie zwei der wichtigsten Männer in Europa auf die Reformvorschläge reagieren. Erst bekommt Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron in Straßburg den Forderungskatalog ausgehändigt, dann reist er nach Berlin, um Bundeskanzler Olaf Scholz zu treffen.
Das ist eine gute Gelegenheit, um ernsthaft über eine Reform der EU zu sprechen. Zwar wird der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine das Treffen dominieren. Doch zeigt gerade der Krieg, wie bitter nötig eine grundlegende Reform der EU ist.
Das Europarlament hat jetzt die Schaffung eines Verfassungskonvents gefordert, auf dem die Vorschläge in aller Tiefe diskutiert werden sollen. Macron und Scholz sollten sich dieser Idee nicht verschließen.
„Auf Scholz und Macron kommt es an“
Auf den deutschen Kanzler und den französischen Präsidenten kommt es jetzt an. Sie müssen sich an die Spitze der EU-Reformbewegung stellen. Der ungarische Regierungschef wird das nicht machen, der polnische Ministerpräsident auch nicht. Aber für die Einberufung eines Konvents ist nur die einfache Mehrheit der Mitgliedsstaaten nötig. Das sollte zu schaffen sein.
Es wäre fatal, wenn die Reformvorschläge einfach in einer Schublade verschwinden würden. Das wäre nicht nur ein Schlag ins Gesicht für jene Bürgerinnen und Bürger, die sich ein Jahr lang den Kopf zerbrochen haben. Das wäre vor allem völlig verantwortungslos gegenüber den nächsten Generationen in Europa. Denn das Krisenknäuel, in dem unser Kontinent steckt, wird nicht einfach verschwinden. Es spricht alles dafür, dass es noch dichter wird.