Die Deutschen und ihr Fleisch – das chronisch kranke System

Das Mantra lautet: Billig, billig, billig. (Symbolbild)

Das Mantra lautet: Billig, billig, billig. (Symbolbild)

Berlin. Der Skandal kommt im Klinkerbau daher. Eine jener Unterkünfte für die Westfleisch-Mitarbeiter, die wegen des Coronavirus unter Quarantäne gestellt sind, liegt an der Hauptstraße in der kleinen Gemeinde Rosendahl im nordrhein-westfälischen Kreis Coesfeld. Links eine lange vor der Pandemie verlassene Kneipe, rechts ein Grillimbiss, 150 Meter weiter das Rathaus, die Polizei und eine Apotheke.

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Vor den beiden Wohnhäusern steht ein Mann vom Sicherheitsdienst, die Einfahrt ist mit einem Bauzaun abgesperrt, die Rollläden an den Fenstern sind heruntergelassen. Dutzende Namen sind auf den Briefkasten gekritzelt. Wer diese Menschen sind, weiß in Rosendahl selbst offenbar niemand. In der Apotheke hätten sie nie eingekauft, heißt es dort, und ein Rentnerpaar, das gerade eine E-Bike-Pause macht, sagt: “Wir wissen gar nichts zu Westfleisch!”

Nichts zu wissen oder nichts wissen zu wollen, das beschreibt das Verhältnis der Deutschen zu ihrem Fleisch und zu dessen Herkunft schon ganz gut.

Nichts zu wissen oder nichts wissen zu wollen, das beschreibt das Verhältnis der Deutschen zu ihrem Fleisch und zu dessen Herkunft schon ganz gut.

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Seit Jahren steht die Fleischindustrie in der Kritik. Billig, billig, billig – um diesem Mantra Folge leisten zu können, hat die Branche ein System geschaffen, in dem das Wohlergehen von Mensch und Tier auf der Strecke bleibt. Undurchsichtige Subunternehmerstrukturen, Werkvertragsarbeiter aus Osteuropa auf Billiglohnniveau, kaum Kontrollen beim Arbeitsschutz und fehlende Mindeststandards in Unterkünften sorgen mit dafür, dass am Ende ein Pfund Hackfleisch für 2 Euro angeboten werden kann.

Die Corona-Epidemie wirft nun, wieder einmal, ein Schlaglicht auf den Preis, den andere dafür zahlen: Coesfeld, Oer-Erkenschwick, Pforzheim, Bad Bramstedt und nun Dissen im Landkreis Osnabrück – nahezu täglich werden neue Ausbruchsherde in Schlacht- und Zerlegebetrieben der Fleischwirtschaft gemeldet. Die Infektionsraten sind meist erschreckend hoch, betroffen sind fast ausschließlich sogenannte Arbeitsmigranten. Mehrere Hundert sind inzwischen an Covid-19 erkrankt.

Große Teile der Arbeiter stammen aus osteuropäischen Billiglohnländern wie Rumänien und Bulgarien. Die allermeisten schuften als Werkvertragsarbeiter. Das heißt, sie sind nicht bei den Schlachthöfen selbst angestellt, sondern bei Subunternehmen. Sie verbringen nicht nur ihre Arbeit-, sondern auch ihre Freizeit miteinander – häufig in Unterkünften unter schlechten hygienischen Bedingungen.

Dabei sind es nicht immer Massenunterkünfte, die die Subunternehmen anmieten. In Coesfeld etwa sind allein 400 Westfleisch-Mitarbeiter auf 120 Adressen im Stadtgebiet verteilt. “In 100 Unterkünften leben je fünf Menschen oder weniger”, sagt Coesfelds Bürgermeister Heinz Öhmann. Unterkünfte mit zehn, zwanzig oder auch mal 40 Bewohnern seien die Ausnahme. Auch im niedersächsischen Landkreis Osnabrück, wo nun 92 neue Infektionen festgestellt wurden, gebe es keine Sammelunterkünfte mit mehr als 17 Bewohnern, heißt es von einem Sprecher des Kreises.

Ob sich die Arbeiter am Fließband, auf dem gemeinsamen Transport dorthin oder in den Unterkünften angesteckt haben, ist unklar. Fest stand für viele aber schon vor Wochen, dass Schlachthöfe ein hohes Risiko darstellen. Der DGB-Kreisverband in Coesfeld etwa hat nach eigenen Angaben schon bei der ersten Sitzung des Krisenstabs des Landrats am 8. April auf die Lage bei Westfleisch im Zuge der Corona-Krise hingewiesen. Erst einen Monat später, am 8. Mai, fand im Betrieb eine angekündigte Arbeitsschutzprüfung statt – zu einem Zeitpunkt, als es dort schon mehr als 100 Infizierte gab. Erst dann wurde der Betrieb geschlossen.

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Situation erinnert an Singapur

Die Situation erinnert an Singapur. Der Stadtstaat in Südostasien galt in der Pandemie lange als Musterland. Mit harten Maßnahmen und rigorosem Rückverfolgen der Fälle hatte es die Millionenstadt fast geschafft, Covid-19 zu besiegen. Dann explodierten die Fallzahlen. Der Grund: an den Schutz der Hunderttausenden Arbeiter aus Indien und Bangladesch, die sich auf den Baustellen der Glitzerstadt abrackern und in Massenunterkünften fernab der Innenstadt leben, hatte niemand gedacht. Man hatte sie schlicht vergessen.

Die Corona-Krise ruft für die Mehrheitsgesellschaft nun schmerzhaft in Erinnerung, dass es da Menschen gibt, die die Drecksarbeit machen. Das gilt in Singapur genauso wie in Deutschland.

Die Zustände in der Fleischwirtschaft haben handfeste Konsequenzen – nicht nur für die Gesundheit der Arbeiter an den Zerlegetischen. Im Kreis Coesfeld wurden die Lockerungen der Corona-Schutzmaßnahmen wegen des Ausbruchs bei Westfleisch um eine Woche verschoben. Geschäftsleute, Wirte, Betreiber von Fitnessstudios – sie alle mussten länger als geplant im Lockdown verharren. Der Schaden geht in die Millionen.

Der Westfleisch-Betrieb in Coesfeld, den der Arbeitsschutz vor zehn Tagen als “erhebliche epidemiologische Gefahrenquelle” eingestuft hat, nimmt an diesem Dienstag wieder den Betrieb auf, teilte das Unternehmen am Montagabend mit – zunächst im Testbetrieb ohne Tiere. Außerdem trennt sich das Unternehmen nun von Subunternehmern. “Westfleisch übernimmt die rund 350 betroffenen Werkvertragsarbeiter, die laufenden Mietverhältnisse und kümmert sich um den Transport von und zur Arbeitsstätte”, heißt es in der Mitteilung.

Es ist der Versuch, eine Systemfrage zu unterdrücken, die sich immer deutlicher stellt. Welche Berechtigung hat eine Fleischwirtschaft, die das Tierwohl für Profite hintanstellt? Die wenig Rücksicht auf den Schutz ihrer Mitarbeiter nimmt? Die Landwirten keine angemessenen Preise bezahlt? Und die vielerorts mit ihren Güllemassen auch noch das Grundwasser verseucht? Gibt es überhaupt so etwas wie billiges Fleisch? Oder zahlt am Ende statt des Verbrauchers einfach jemand anderes die Rechnung?

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Aus Sicht der Grünen ist die Sache klar. Fleisch muss teurer werden. Parteichef Robert Habeck will einen Mindestpreis auf Tierprodukte durchsetzen. “Wenn wir von Bauern gute Arbeit, Tierschutz und Klimaschutz verlangen, dann müssen wir sie auch dafür bezahlen”, sagte er der “Bild”-Zeitung. Auch in der CDU sprechen sich immer mehr Politiker für höhere Preise aus. Landwirtschaftsministerin Klöckner ist zwar gegen einen festgelegten Mindestpreis, aber auch sie wettert seit Langem gegen Lockangebote und Billigstpreise.

Dabei sind die Bedingungen der Arbeiter lange vor Corona bekannt. “In Niedersachsen sind die Probleme früh begriffen worden – gleichwohl bis heute nicht gelöst”, sagt DGB-Bundesvorstandsmitglied Anja Piel, zuvor Landtagsabgeordnete der Grünen, und verweist auf längst geschaffene Rechtsgrundlagen.

Nach einem Feuer in einer Werkvertragnehmer-Unterkunft im Sommer 2013, bei dem zwei Werkarbeiter gestorben waren, gab es 2014 einen Erlass vom Land Niedersachsen zur besseren Unterbringung von Werkvertragsarbeitern. “Viel getan hat sich seitdem nicht”, sagt Piel, trotz des Drucks der Gewerkschaften. “Die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie waren immer schon gesundheitsgefährdend, in der Corona-Krise sind sie geradezu lebensgefährlich.”

Denken die Verbraucher um?

Denken die deutschen Verbraucher nun um? Liegt in der Krise gar eine Chance? Das ist möglich, aber keineswegs sicher. Im Moment geht es vor allem um Schadensbegrenzung. Mit aller Macht versuchen die Behörden, die Corona-Hotspots in den Fleischbetrieben einzugrenzen. Es gibt Reihentests in den Schlachthöfen, die Gesundheitsämter verschaffen sich Zutritt zu den Quartieren der Arbeiter. Der Infektionsschutz macht plötzlich Dinge möglich, die der Arbeitsschutz nicht erlaubt hätte.

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Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sind die Zustände in der Branche schon seit Langem ein Dorn im Auge. Immer wieder haben er und seine Vorgänger im Arbeitsministerium versucht, den Exzessen Einhalt zu gebieten. Doch die Branche war kreativ, wenn es darum ging, die Kosten zu drücken. Und ihre Lobby war einflussreich genug, um im Gesetzgebungsverfahren für die nötigen Ausnahme- und Umgehungstatbestände zu sorgen.

Erst an diesem Montag musste Heil das erfahren. Mit ausdrücklicher Unterstützung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte der SPD-Minister einen Maßnahmenkatalog für das Corona-Kabinett an diesem Montag erarbeitet, um die Zustände in der Fleischindustrie ein für alle Mal in den Griff zu bekommen. Er sah ein vollständiges Verbot von Werkverträgen in Schlachthöfen vor. Außerdem will Heil den Ländern verbindliche Überwachungsquoten vorschreiben, Mindeststandards bei der Unterbringung ausländischer Beschäftigter sicherstellen sowie eine verpflichtende digitale Arbeitszeiterfassung einführen.

Die Gelegenheit war günstig, der öffentliche Druck maximal – trotzdem wurde das Paket kurzfristig von der Tagesordnung gestrichen. Das CSU-geführte Bundesverkehrsministerium hatte Gesprächsbedarf angemeldet, auch aus dem Innen- und Landwirtschaftsministerium kamen Bedenken.

Am Mittwoch steht das Thema auf der Tagesordnung der regulären Kabinettssitzung. Heil gibt sich kämpferisch. “Meine Aufgabe ist es, die Gesundheit der Beschäftigten zu schützen und über Arbeitsschutz einen Beitrag zu leisten zum Schutz der Bevölkerung”, sagt er. “Davon lasse ich mich nicht abbringen.”


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