Reaktion auf Putins Krieg

Deutschlands neue Rolle: Wie die Scholz-Rede unsere Sicherheitspolitik auf den Kopf stellt

Bundeskanzler Olaf Scholz.

Bundeskanzler Olaf Scholz.

Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine will Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die Bundeswehr aufrüsten. In seiner Regierungserklärung kündigte Scholz ein „Sondervermögen Bundeswehr“ an, das im Bundeshaushalt 2022 einmalig mit 100 Milliarden Euro ausgestattet werden soll. Nach eigenen Worten will er dieses Sondervermögen im Grundgesetz verankern und bat dafür das Parlament um Unterstützung. Zudem kündigte er an, dass Deutschland von nun an „Jahr für Jahr“ mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung investieren werde. Die Analyse der Rede und ihre Bedeutung für die künftige deutsche Rolle in der Welt:

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Außen: Die deutsche Außenpolitik steht in einer Zäsur. In den vergangenen 30 Jahren agierte sie in der Tradition des Glaubens an den globalen Fortschritt durch die Überzeugungskraft der Demokratie. Nun muss sie die Prinzipien Abschreckung und Wehrhaftigkeit hinzunehmen. Scholz sagt, der Anspruch bleibe „so viel Diplomatie wie möglich, ohne naiv zu sein“.

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In der Aussage schwingt die Erkenntnis mit, dass er bei seinem letzten Treffen mit dem russischen Machthaber Wladimir Putin schlicht vorgeführt wurde. Das Ende der Naivität wird in der praktischen Außenpolitik bedeuten, dass man sich vor einem aggressiven Despoten nicht allein mit Diplomatie schützen kann. Deutschland wird auch seine viel zitierte historische Verantwortung neu definieren müssen.

Man wird sich von der Doppelmoral in Sachen Waffenlieferung trennen müssen: 2021 hat die Bundesregierung Rüstungsexporte in Höhe von 9,35 Milliarden Euro genehmigt und dann aber gezögert, es Estland zu gestatten, alte DDR-Bestände der von Putin in die Zange genommenen Ukraine zur Verfügung zur stellen. Dass die Ukraine nun Abwehrwaffen erhalten soll, könnte der Auftakt zu einer neuen Rüstungsexportpolitik sein.

Sicherheit: Jahrelang hat Deutschland seine Bündnispartner in der Nato hingehalten, das eigentlich gemeinschaftlich vereinbarte Ziel von Verteidigungsausgaben in Höhe von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erfüllen. Nun hat Scholz eine radikale Wende eingeleitet. Ein Sondervermögen „Bundeswehr“ von 100 Milliarden Euro soll dafür sorgen, dass die deutsche Armee international die Stärke bekommt, die der Größe der Bundesrepublik entspricht. „Ohne Wenn und Aber stehen wir zu unserer Beistandspflicht in der Nato“, sagt Scholz. Das neue Sondervermögen soll sogar grundgesetzlich verankert werden. Das ist auch symbolisch ein wichtiger Akt: Dafür braucht die Ampelregierung die Union und die Bundesländer.

Aber: Auch die größten Geldsummen modernisieren eine Bundeswehr nicht von alleine. Der Bundeswehr hat es in den vergangenen Jahren vor allem an guter und effizienter Führung und Organisation gefehlt. Neben einem Sondervermögen Bundeswehr wäre also vor allem eine Sondereinheit Reform und Neuaufstellung notwendig – teure Beraterverträge von außen sind dafür nicht unbedingt notwendig.

Scholz machte zudem ein paar konkrete Ankündigungen für Projekte, bei denen vor allem seine Genossen bislang große Bauchschmerzen hatten. Er betonte die Notwendigkeit, die nächste Generation von Kampfflugzeugen und Panzern gemeinsam mit Frankreich und anderen europäischen Ländern zu bauen. „Diese Projekte haben oberste Priorität für uns.“ Die Euro-Drohne kommt nun. „Auch die Anschaffung der bewaffneten Heron-Drohne aus Israel treiben wir voran“, sagte der Kanzler. Und sogar für „die nukleare Teilhabe“ soll rechtzeitig ein moderner Ersatz für die veralteten Tornado-Jets beschafft werden. Damit wird die bisherige Sicherheitspolitik von defensiv auf offensiv abwehrbereit gestellt.

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Energie: Wie in der Sicherheitspolitik sind unter dem Eindruck von Putins Angriff auf die Ukraine nun Schritte denkbar, die man jahrelang zögerte zu gehen. Angesichts der Erkenntnis, dass sich Deutschland dringend von russischem Gas unabhängig machen muss und möglicherweise schon im kommenden Winter ausbleibende Lieferungen für Verknappung sorgen könnten, hat Kanzler Scholz den schnellen Bau von zwei Terminals für Flüssigerdgas (LNG) in Deutschland angekündigt. Als Standorte der Terminals, die in Zukunft auch grünen Wasserstoff aufnehmen können sollen, nannte er Brunsbüttel und Wilhelmshaven. Außerdem solle eine Kohle- und Gasreserve aufgebaut werden.

Die Kehrtwende in der Energiepolitik ist ähnlich groß wie in der Sicherheitspolitik. Über Jahre hat sich Deutschland dahinter versteckt, dass Nord Stream 2 ein rein „wirtschaftliches Projekt“ sei. Jetzt leugnet niemand mehr, dass sichere Energieversorgung eine zutiefst politische Frage ist und dass man sich schon vor dem Erreichen der Energiewende hin zu einer Versorgung mit Erneuerbaren von den Lieferungen aus Russland unabhängig machen muss. Scholz sagte: „Eine verantwortungsvolle, vorausschauende Energiepolitik ist nicht nur entscheidend für unsere Wirtschaft und unser Klima, sondern entscheidend auch für die deutsche Sicherheit.“

Finanzen: Die Finanzpolitik muss sich nun der Sicherheitspolitik unterordnen. Scholz‘ Botschaft in seiner Regierungserklärung klang ein wenig wie seine damalige Erklärung als Finanzminister auf dem Höhepunkt der Corona-Krise, als er sein Schutzschild für Unternehmen und Wirtschaft vorstellte. Nun soll die Freiheit verteidigt werden – koste es, was es wolle. Unter dem Eindruck, mit welcher Entschlossenheit und Bereitschaft zum Verlust die Ukrainer ihre Freiheit verteidigen, nimmt Scholz ökonomische Einbußen für Deutschland in Kauf.

„Wir verhindern den Export von Zukunftstechnologie nach Russland. Wir nehmen die Oligarchen und ihre Geldanlagen in der EU ins Visier.“ Die Entscheidung hat lange gedauert, zu lange für den Geschmack vieler internationaler Partner. Spät hat sich die Bundesregierung nun auch dazu durchgerungen, gemeinsam mit den europäischen Partnern Russland aus dem internationalen Bankenhandelssystem auszuschließen.

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