Deutschland entdeckt die wunderbare Welt des Wasserstoffs
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“Wasserstoff, Wasserstoff über alles”: Wasserstofffabrik von Apex Energy in Rostock-Laage.
© Quelle: Apex Energy, Rostock-Laage
“Wenn das alles so weitergeht, tanze ich hier bald vor Freude um den Tisch”, sagt Peter Sponholz, Technikchef bei Apex Energy in Rostock-Laage.
Eigentlich ist dies keine Gegend für große Gefühlsausbrüche. Rund um den Hightechkomplex der Firma Apex dehnen sich Wiesen und Felder. In der Nähe liegen die oft leeren Landebahnen eines wenig genutzten Flughafens. Und eine halbe Autostunde weiter nördlich blinkt die Ostsee. Nüchterner und norddeutscher geht es nicht.
Drinnen aber geschieht Aufregendes, man kann sogar sagen: Historisches.
Sponholz und sein Team haben in den vergangenen Jahren eine komplette kleine Fabrik für sogenannten grünen Wasserstoff in Gang gesetzt. Die Anlagen laufen schon, im Probebetrieb. Interessenten, die vielleicht eines Tages gern eine eigene Wasserstoffanlage bauen oder kaufen wollen, können sich hier alles vorführen lassen, worauf es ankommt: Wie funktioniert die Elektrolyse, bei der Wasser aufgespalten wird in Wasserstoff und Sauerstoff? Und wie wird dann der so gewonnene Wasserstoff gespeichert? Der Clou: Die Anlage nutzt für die energieaufwendigen Spaltvorgänge überschüssigen Strom aus Wind- und Solarenergie, für den oft niemand Verwendung hat. “Ohne alternative Energien”, betont Sponholz, “wäre es ja kein grüner Wasserstoff.”
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Nie war das Thema Wasserstoff so cool wie in diesen Tagen: Peter Sponholz, Chief Technology Officer der Firma Apex Energy, Rostock.
© Quelle: Apex Energy
Möglichst bald, wohl noch im Sommer, will Apex die Fabrik offiziell eröffnen. Politiker werden erscheinen, die Medien melden Interesse an, Entwürfe für Pressemitteilungen werden schon geschrieben. Sponholz ist begeistert: Seit 20 Jahren schon, anfangs nur in einer Garage, hantiert seine Firma mit alternativen Energien und Wasserstoff, aber nie war das Thema so cool wie in diesen Tagen.
Das W-Wort zieht die Aktienkurse hoch
Die gesamte Kulisse wandelt sich gerade, quer durch Deutschland und Europa. In Berlin beschloss das Kabinett am Mittwoch eine Wasserstoffstrategie, unterfüttert mit Fördergeldern in Höhe von 9 Milliarden Euro – das ist mehr, als die Branche erwartet hatte. In Brüssel hantiert die EU-Kommission mit ähnlichen Plänen, man tippt auf einen zweistelligen Milliardenbetrag, der wohl am 24. Juni verkündet wird. Und an den Aktienmärkten zieht das W-Wort mittlerweile alle Werte hoch, die auch nur entfernt mit Wasserstoff in Verbindung gebracht werden. In seinem “Hot Stock Report” notierte dieser Tage der Börsenspezialist Florian Söllner: “Ein befreundeter Fondsmanager schrieb mir gerade: Wasserstoff, Wasserstoff über alles.”
Was ist da im Gang? Ist Wasserstoff nur ein neuer Hype – oder eine ernst zu nehmende neue Hoffnung?
Seit Jahrzehnten wabern Wasserstoffdebatten zwischen den Extremen hin und her. Mal traten Visionäre auf die Bühne und skizzierten Erlösungsszenarien, als könne das geruchlose Gas die Menschheit von allem Übel befreien. Dann erhoben sich wieder die Skeptiker, kopfschüttelnd und mit wegwerfender Geste: alles viel zu teuer, alles gar nicht praktikabel.
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Werden gigantische Anlagen für alternative Energie bald zu Gelddruckmaschinen, wie einst die Ölquellen? Chinesische Solarfabrik in Marokko.
© Quelle: Imago
Der amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin (“Die H₂-Revolution”) schrieb schon im Jahr 2002, nun dämmere das Zeitalter der Wasserstoffwirtschaft, einer wunderbaren neuen Ära, in der es umweltfreundlicher zugehen werde als je zuvor.
Doch die Realitäten folgten Rifkins Theorien nicht, am wenigsten in den USA. Zuletzt ließ dort Präsident Donald Trump, in trotziger Verachtung weltweiter Klimaziele, allen Ernstes gleich reihenweise uralte Kohlegruben wieder aufschließen.
Drei Faktoren treiben Deutschland und Europa in Richtung Wasserstoff
Inzwischen allerdings, mit zwei Jahrzehnten Verspätung, sehen viele nun doch einen Wendepunkt gekommen. Die politischen Treiber sitzen derzeit in Europa, in China, aber auch in Staaten wie Japan, Südkorea und Australien.
In Deutschland und Europa addieren sich derzeit drei für die Wasserstoffwirtschaft günstige Faktoren in ihrer Wirkung – nicht trotz, sondern gerade wegen der Corona-Krise.
1. Das nötige Geld ist plötzlich da. Kanzlerin Angela Merkel, als Physikerin immer schon technikbegeistert, ließ im Berliner Konjunkturpaket mal eben 9 Milliarden Euro allein für die Förderung von Wasserstoff festschreiben – eine Summe, um die auch sie unter normalen Umständen lange mit dem Parlament hätte ringen müssen.
2. Europas Politiker wollen eine neue Eigenständigkeit für den Kontinent. Eine Unterbrechung von Handels- und Versorgungsketten, sei es durch Viruskrisen oder zwischenstaatliche Konflikte, soll den Europäern in Zukunft nicht mehr so sehr schaden wie heute. “Es geht um Resilienz”, heißt es dezent in der Umgebung von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Hinter vorgehaltener Hand wird im Klartext hinzugefügt: Russland soll langfristig nicht mehr in der Lage sein, die Europäer wegen ihrer Gasabhängigkeit zu erpressen – und auch auf die Amerikaner und ihre Bereitschaft, Ölrouten durch Militäreinsätze offen zu halten, soll es in den kommenden Jahrzehnten möglichst nicht mehr so sehr ankommen.
3. Eine interessante geopolitische Perspektive liegt in der Einbeziehung der Afrikaner. Die Europäer wollen ihnen per Wasserstoffwirtschaft ungeahnte neue Einkünfte verschaffen. Gigantische Solarfarmen könnten in Afrika Wasserstoff produzieren – und sich als “Gelddruckmaschinen” erweisen, wie der Wasserstoffexperte Robert Schlögl von der Max-Planck-Gesellschaft sagt.
Für Norddeutschland könnte diesmal viel drin liegen
Innerhalb Deutschlands könnte bei der bevorstehenden Innovationswelle ausnahmsweise mal für den Norden mehr drin liegen als für den Süden. “Wasserstoff ist das neue Öl”, sagt Niedersachsens Wirtschaftsminister Bernd Althusmann – und entwirft schon Pläne sowohl für dessen Umschlag als auch für die Produktion, etwa rund um den Tiefwasserhafen Wilhelmshaven. “Wir haben im Norden alles, was man braucht”, sagt Althusmann. “Industrie, Forschung – und viel Wind.”
Noch allerdings haben, Stand Juni 2020, die Skeptiker recht. Grüner Wasserstoff ist bislang viel zu teuer, vor allem wegen des hohen Energieaufwands bei seiner Erzeugung.
Doch in dieser Rechnung verändern sich mittlerweile die Variablen. Die alternativen Energien werden effizienter. Zugleich entwickeln Techniker immer neue Verfahren, die sowohl die Elektrolyse als auch das spätere Speichern des Wasserstoffs simpler und billiger machen. Und es sind nicht mehr nur irgendwelche Tüftler in Garagenfirmen, die da etwas ausprobieren.
Im Markt ist Bewegung wie noch nie
Neuerdings bewegt sich in der Branche mitunter in wenigen Tagen mehr als früher in ganzen Jahren. Allein in dieser Woche verblüffte die Wasserstoffszene den Rest der durch Corona getrübten deutschen Wirtschaftswelt durch einen ganzen Stapel guter neuer Nachrichten.
- Thyssenkrupp, Deutschlands größter Stahlkonzern, teilte mit, man werde schon in diesem Jahr die Produktion von grünem Wasserstoff deutlich hochfahren. Möglich wird dies durch neue Techniken, die Schwankungen in der Stromversorgung durch alternative Energien auffangen.
- Alstom, ein französischer Bahnhersteller mit Produktionsstätten in Salzgitter, unterzeichnete soeben einen Vertrag zur Lieferung von wasserstoffbetriebenen Zügen nach Italien. Bereits seit 2018 pendelt der erste Wasserstoffzug der Welt, von Alstom in Salzgitter gebaut, zwischen Cuxhaven und Buxtehude.
- Sunfire, ein Wasserstoff-Start-up aus Dresden, einigte sich mit mehreren europäischen Partnern darauf, in Norwegen eine erste Großproduktionsanlage für Kraftstoffe zu bauen, die etwa Schiffe, Busse und Lastwagen antreiben sollen.
- Hydrogenious LOHC, ein Start-up aus Erlangen, hat mit dem Hyundai-Konzern einen neuen Investor gefunden; die Südkoreaner sind scharf auf in Erlangen entwickelte neue Speichermethoden für Wasserstoff.
Grüne denken industrieller, Industrielle denken grüner denn je
Technologisch liegen die Deutschen derzeit weltweit vorn. Doch die Konkurrenz, China vorneweg, schläft nicht. Und manche Standorte für alternative Energien, die sich eben noch vom Lauf der Geschichte benachteiligt sahen, nehmen jetzt schon mal Maß für den Bau riesiger Wind- oder Solaranlagen.
Es ist, als würden gerade weltweit die Karten neu verteilt. “Die besten Potenziale haben Weltgegenden, wo kaum jemand wohnt”, schreibt Timm Koch in seinem Buch “Das Supermolekül: Wie wir mit Wasserstoff die Zukunft erobern”. Die Sahara, der mittlere Westen der USA und Somalia am Horn von Afrika könnten auf Investoren plötzlich einen ganz neuen Reiz entfalten.
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“Wir haben im Norden alles, was man braucht: Industrie, Forschung – und viel Wind”: Mitarbeiter des Start-ups Energy Kitchen aus Husum helfen weltweit bei alternativen Energieprojekten.
© Quelle: Energy Kitchen, Husum
Formiert sich bald eine “Wasserstoff-Opec”, die sich eines Tages zufrieden zurücklehnt und den Rest der Welt abkassiert? Die Regierung Chiles etwa sieht sich bei den Gewinnern. Im Norden des Landes, in der Atacama-Wüste, ist die Sonnenintensität so hoch wie nirgendwo sonst auf der Welt. Im Süden, rund um Feuerland, weht ständig Wind. Für 15 Windparks im Süden Chiles ist neuerdings eine kleine Firma aus Schleswig-Holstein als Projektentwicklerin zuständig: Energy Kitchen, ein aus nur vier Personen bestehendes Start-up mit Sitz in Husum.
Die gerade entstehende neue Energiewelt ist weniger dogmatisch als die alte. Grüne denken jetzt industrieller, Industrielle grüner denn je. Man arbeitet vernetzt, Nationalitäten sind egal. Beim produktiven Zusammenwerfen von Know-how würden Grenzen ohnehin nur stören, egal ob auf den Landkarten oder in den Köpfen.
Vielleicht behalten jene recht, die schon seit Jahrzehnten predigen, die Wasserstoffwirtschaft werde die Welt auf wundersame Art auch friedlicher und gerechter machen. Dann wäre, was in diesen Tagen angeschoben wird, viel mehr als nur eine Investition in einen neuen Energieträger.