Putins Einmarsch

Der Tag, der die Welt entsetzte: Plötzlich ist wieder Krieg in Europa

Ukrainische Soldaten fahren in einem Militärfahrzeug durch Mariupol.

Ukrainische Soldaten fahren in einem Militärfahrzeug durch Mariupol.

Und plötzlich ist Krieg mehr als nur ein Wort. Plötzlich ist er ganz real. Und verteufelt nah. Näher als die Bilder von zerschossenen Häusern in Syrien seit Jahren in der „Tagesschau“, näher als die bärtigen Männer, die 8000 Kilometer entfernt in Afghanistan ihre Gewehre in die Luft recken.

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Plötzlich regt sich das tödliche Monster zwei Flugstunden von Berlin entfernt. 70 Kilometer vor der Ostgrenze der Europäischen Union ist Krieg. Ich habe Kaffee getrunken auf dem Maidan in Kiew. Menschen küssten sich, die Sonne schien. Viereinhalb Jahre ist das her. Jetzt kauern sie dort in U-Bahn-Schächten.

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Angriffskrieg. Frontlinie. Schützengräben. Panzer. Raketen. Es sind für Europäerinnen und Europäer Worte aus einem anderen Jahrhundert. Flankenangriff. Schweres Gerät. Truppenbewegungen. Flucht im Morgengrauen. Bombenangriffe. Brennende Militärlaster. Propagandalügen von Genozid und „Entnazifizierung. Man möchte all diese Worte nicht hören und diese Bilder nicht sehen. Nicht an diesem 24. Februar 2022, nicht an einem anderen Tag. Und auch nicht nach zwei zermürbenden Jahren der Pandemie, die den letzten Rest an Widerstandskraft gegen Mutlosigkeit und Weltuntergangsstimmung aufgebraucht haben.

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Es fühlt sich nicht an wie eine weitere Krise. Es fühlt sich an wie eine tiefe Zäsur. Europa, der Kontinent der Seligen, Sehnsuchtsziel von Flüchtlingen, geschützt von der EU, dem größten Friedensprojekt der Nachkriegszeit, wird zum Schauplatz eines massiven, großflächigen, eiskalten Völkerrechtsverbrechens. Nach dem Weltenbrand, der 1945 endete, haben drei Generationen einen solchen Krieg nicht mehr für möglich gehalten.

Weinende Menschen auf den Straßen. Familien mit Kindern und Koffern an Grenzübergängen. Es ist Tag eins eines Krieges, wie ihn Europa, zuletzt Ende der Neunziger aufgewühlt vom Kosovokonflikt, in dieser Form seit 83 Jahren nicht gesehen hat. Den letzten Angriffskrieg in Europa brach das Deutsche Reich unter Hitler vom Zaun, mit seinem Überfall auf Polen am 1. September 1939. Nun überrollt eine tief gekränkte Supermacht einen angeblichen „Bruderstaat“, einen Nachbarn. Und man sitzt ungläubig vor dem Fernseher, guckt auf das Handy. Und liest. Und guckt. Und liest. Und guckt. Und versteht: nichts.

Die Welt klebt am Fernseher. Sie sieht UN-Generalsekretär António Guterres, der Wladimir Putin anfleht in der Nacht, in der der Krieg begann – mit einem Satz, der bisher nur popmusikalische Friedenslyrik aus der Feder von John Lennon war: „Give peace a chance!“ Sie sieht Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bei einem bedrohlichen Schwur: „Wir werden jeden Inch des Nato-Territoriums verteidigen.“ Sie sieht den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj mit einem dramatischen Versöhnungsaufruf an Russland. „Das ist unser Land“, sagt er auf Russisch, den Tränen nahe. „Ihr kennt uns. Wofür wollt ihr kämpfen?“

Es ist kein Kampfesruf. Es ist ein nachbarschaftlicher Appell an die Vernunft, an die Gemeinsamkeiten. Er wisse nicht, wie lange es sein Land noch gebe und wie lange er noch lebe, sagt er. Die Autos in Kiew stauen sich da schon vierspurig in Richtung Westen. Fünftklässlerinnen und Fünftklässler in Norddeutschland fragen im Religionsunterricht, ob jetzt der Dritte Weltkrieg beginnt. Die Deutsche Presse-Agentur versendet an einem einzigen Tag 34 Eilmeldungen. Das Brandenburger Tor leuchtet in Gelb-Blau. In der Dresdner Frauenkirche beten Menschen für die Ukraine.

Krieg in der Ukraine: Baerbocks wahre Worte

„Wir wurden eiskalt belogen“, sagt Außenministerin Annalena Baerbock in Berlin. Ihren wichtigsten Satz aber hat sie schon am Morgen um 10.10 Uhr in die Kameras gesprochen: „Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht.“

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Bundeskanzler Olaf Scholz sagt: „Das ist Putins Krieg.“

Vizekanzler Robert Habeck sagt: „Der Westen, auch Deutschland, war zu naiv.“

Es sind Sätze, die eines Tages in Geschichtsbüchern stehen werden.

Das Fernsehen ist voll von westlichen Politikerinnen und Politikern, die zerknirscht zugeben, „zu naiv“ gewesen zu sein, „überrascht“ von der russischen Aggression, „irritiert“ und „fassungslos“. Der nüchterne Bürokratismus der Militärs hat seine eigene Sprache. Das Bundesverteidigungsministerium teilt mit, man löse „nationale Alarmmaßnahmen“ aus: 14.000 deutsche Soldatinnen und Soldaten werden verlegt, die sich im Falle eines Falles Nato-Eingreiftruppen anschließen sollen. Biden schickt 7000 Einsatzkräfte nach Deutschland. „Wenn Sie in den kommenden Tagen Militärkolonnen sehen“, sagt ein ARD-Korrespondent, „dann wissen Sie jetzt, warum“.

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Kämpfe in Tschernobyl

Am frühen Abend melden Agenturen: Putins Truppen erobern die Gegend rund um das explodierte Kernkraftwerk Tschernobyl. Russische Soldaten am gigantischen Stahlsarkophag der tödlichen Atomruine. Es klingt wie das irre Szenario eines Bond-Films aus den Siebzigern. Aber es ist echt. Und es ist jetzt. Und es ist ein Verstoß gegen alle Regeln, die sich die Weltgemeinschaft selbst verordnet hat.

Bei der Erklärung, was „Defensivwaffen“ sind, wird Habeck später etwas zu lässig (“Bumms, war das Bein weg!“), aber das passiert schon mal nach langen Stunden auf allen Kanälen. Für die Ampelregierung ist es eine bleischwere Bewährungsprobe – eine Krise, wie sie sich nur alle paar Jahrzehnte ereignet.

Der Golfkrieg 1991 begann mit zittrigen CNN-Bildern von dürren, grünen, Flugabwehrkanonen über Bagdad. Der Irakkrieg 2003 begann mit sechs Cruise Missiles in Kuwait. Schon Wochen vorher hatte sich damals eine solche Spannung aufgebaut, dass „der Moment, in dem etwas passiert, selbst für den letzten Pazifisten eine gewisse innere Erlösung bedeutet“, schrieb der Publizist Georg Seeßlen. Auch der Ukrainekrieg begann schon vor Wochen und Monaten – mit russischen Cyberattacken, Social-Media-Sturzfluten und Propagandalügen, die vor allem nach innen den Boden bereiten sollten. Aber eine „innere Erlösung“? Keine Spur.

Das ist das Irritierende an diesem Krieg: dass man sich offenbar auf nichts mehr verlassen kann. Dass nur ein einziger Mensch auf der Welt weiß, was in Putins Schädel wirklich geschieht. Es ist, als sei die Ungewissheit bis nach Deutschland spürbar. Wo soll die Ukraine kämpfen? Wie soll sie kämpfen? Sollen die Soldatinnen und Soldaten mit 5000 deutschen Stahlhelmen werfen? Und über allem die bange Frage: Was will Putin eigentlich? Was plant der Mann? Begnügt er sich mit der Ostukraine? Giert er nach mehr? Ist ihm inzwischen alles egal? Das würde ihn aktuell zum gefährlichsten Mann der Welt machen.

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Indirekt droht er mit Atombomben, sollte der Westen sich einmischen, mit „Konsequenzen, wie Sie sie noch nie in Ihrer Geschichte erlebt haben“. Wann hat, seit Stalin, ein russischer Machthaber jemals so gesprochen? Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian antwortet: „Putin muss auch verstehen, dass die Atlantische Allianz ein nukleares Bündnis ist.“ A-Bombe gegen A-Bombe. Was ist bloß passiert?

Als Zuschauerin und Zuschauer führt die Unwirklichkeit dieses Tages, „der nie hätte passieren dürfen“ (Habeck), vor allem zu massiver Verunsicherung. Wir erleben die Erosion von Gewissheiten. Eine bestand über Jahrzehnte darin, dass in Europa keine Angriffskriege mehr denkbar sind. Dass kein Land auf diesem Kontinent ein anderes vorsätzlich und aggressiv beschießen, besetzen und sich einverleiben könnte. Seit diesem Donnerstag ist das ungute Gefühl wieder gewachsen, dass am Ende auf dieser Welt, so wie sie gerade ist, doch irgendwie alles passieren kann.

Es ist schwer auszuhalten. Und wir sind nur Zuschauerinnen und Zuschauer. Wir unterliegen der Gnade der Distanz. Wie muss es sich erst anfühlen, im Zentrum der Katastrophe zu stehen? Angst um seine Kinder zu haben? Um sein Land zu kämpfen?

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„Das hier ist ein Krieg des autoritären Imperialismus gegen die Demokratie“, twittert die ukrainischstämmige Politikerin und Publizistin Marina Weisband. Sie höre aus Dörfern in der Ukraine, „die so hart unter Beschuss standen, dass dort Eltern den ganzen Vormittag über in den Kellern mit ihren Körpern über ihren Kindern lagen“. „Wir haben seit acht Jahren Krieg mit Russland – und niemand redet darüber!“, sagt eine verzweifelte Frau in der ARD. „Helfen Sie uns! Nicht nur bla bla bla!“

Roman Schell macht nicht nur „bla bla bla“. Der deutsche Filmemacher berichtet in ARD und ZDF, wie er mit einem Team von Psychologen zehn Kinder aus einem beschossenen Dorf an der russisch-ukrainischen Grenze in Sicherheit zu bringen versucht. Nach Westen, nach Polen. „Jetzt sind wir verantwortlich für sie.“ Es geht über Landstraßen, immer abseits von Militärbasen. Die Eltern mussten zurückbleiben. Niemand weiß, was dort passieren wird.

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„Das war Roman Schell, zur Zeit auf der Flucht“, sagt „heute-journal“-Moderator Christian Sievers. Es klingt wie „zur Zeit in Herzogenaurach“. Die guten Wünsche vergisst er.

Krieg in der Ukraine: Überall ist von Blut die Rede

„Schönen Abend“, sagt Schell am Ende.

Überall ist von Blut die Rede an diesem Tag.

Putin habe den Angriff „in kaltem Blut geplant“, sagt Habeck in den „Tagesthemen“.

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„An Ihren Händen klebt Blut“, sagt Remko Leemhuis, Direktor der Berliner Dépendance des American Jewish Committee, in Richtung des heutigen Gaslobbyisten und früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder.

Die Ukraine habe „unter großen Opfern und mit dem Blut unserer Vorgänger für ihre Souveränität gekämpft“, schreibt die Dirigentin Oksana Lyniv bei Facebook. „Es ist unmöglich, zuzulassen, dass jetzt wieder ein Krieg im Herzen Europas ausbricht.“

„Wer mit russischem Öl heizt, heizt mit Blut“, sagt ein Teilnehmer einer pro-ukrainischen Kundgebung.

„Das Blut von Zivilisten wird an den Händen des Angreifers kleben“, schreibt der Politikchef der regierungskritischen Zeitung „Nowaja Gaseta“, Kirill Martinow.

So viel Blut.

„Blut wird sich mit Tränen mischen“, schreibt auch Wladimir Klitschko, Bruder des Kiewer Bürgermeisters Vitali Klitschko. Und fragt dann: „Wie kann 2022 so etwas passieren?“

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Es ist die Frage dieser Stunden. Wie kann so etwas passieren? Es gibt keine Antwort auf diese Frage an diesem Tag. Es wird vermutlich Jahre dauern, bis die Welt halbwegs versteht, was am 24. Februar 2022 passiert ist.

Das Fernsehen zeigt Reporterinnen und Reporter an Ausfallstraßen. Sie stehen im Halbdunkel, berichten in wackeligen Bildern aus dem ukrainischen Grenzgebiet. Sie tun ihr Bestes. Die Erwartungen des Publikums, gewöhnt an sekundenschnelle Befriedigung aller Informationsbedürfnisse, können sie nicht befriedigen. Man habe Militärlaster gesehen. Menschen fliehen. Es sind mutige Reporterinnen und Reporter, aber sie können wenig sagen, um das große, schwarze Fragezeichen über dem Kontinent Europa zu vertreiben.

„In unserer grenzenlosen Unwissenheit sind wir alle gleich“, hat der Philosoph Karl Popper mal geschrieben. Die Gewissheit, nicht allein zu sein mit seinen Ängsten und Ungewissheiten, ist der einzige Trost nach diesem Tag, an dem der Krieg begann.

„Putin wird Russland schwer schaden“, sagt Habeck.

„Putin wird nicht gewinnen“, sagt Scholz.

Schalke 04 entfernt das Gazprom-Logo von seinem Trikot.

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Die Nato, das „stärkste Militärbündnis der Geschichte“ (Stoltenberg), wird nicht eingreifen. Wenn sie es täte, wäre das eine Katastrophe. Wenn sie es nicht tut, ist es eine Katastrophe.

Und wir dachten, die Pandemie wäre auf Jahre hinaus das Schlimmste.

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