„Der fleischgewordene Herrenwitz“: Wie Wolfgang Kubicki und andere Politiker zu Romanfiguren wurden
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Die Figuren im Roman sind zum Teil eins zu eins der Realität nachempfunden – auch Wolfgang Kubicki taucht auf.
© Quelle: IMAGO/Dirk Jacobs
Liebe Leserin, lieber Leser,
es ist fast 70 Jahre her, dass in der alten Bundesrepublik ein Buch auf den Markt kam, das bei älteren Menschen aus den politisch gebildeten Ständen noch immer einen Namen hat: „Das Treibhaus“ von Wolfgang Koeppen. Der 1953 erschienene Roman beschreibt das Leben des gelernten Journalisten Felix Keetenheuve, der jetzt für die SPD im Bonner Bundestag sitzt und dort an den Mechanismen des Regierungsviertels scheitert. Allerdings scheitert dieser Keetenheuve nicht nur politisch, sondern auch privat. Denn seine Frau Elke verfällt dem Alkohol, woran ihr Mann wohl eine Mitschuld trägt, weil er sich zu wenig um sie kümmert. Keetenheuve selbst neigt unterdessen sehr jungen Frauen zu – und springt eines Tages, beruflich und moralisch am Boden, in den Rhein.
Vor wenigen Tagen nun ist im Luchterhand-Verlag ein Roman des Schriftstellers Christoph Peters erschienen, in dem nicht allein im Klappentext auf Koeppen verwiesen wird. Sein Titel lautet: „Der Sandkasten“. Der 55-jährige Peters, der vor zwei Jahren einen „Dorfroman“ über das Entstehen der westdeutschen Umweltbewegung geschrieben hat, nimmt auch sonst unübersehbar Anleihen bei Koeppen. Seine Figuren sind in Teilen eins zu eins der Realität nachempfunden. Wer politisch auf dem Laufenden ist, wird den ehemaligen Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ebenso identifizieren wie seinen Nachfolger Karl Lauterbach (SPD). Mit dabei sind ferner der FDP-Vorsitzende Christian Lindner und sein Stellvertreter Wolfgang Kubicki. Alle vier bekommen in diesem auf 250 Seiten flüssig dargebotenen Remake ihr Fett weg.
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Das Cover des Romans „Der Sandkasten“ von Christoph Peters.
© Quelle: Luchterhand
Im Zentrum steht der Radiomoderator Kurt Siebenstädter. Er ist im Betrieb bekannt wie ein bunter Hund, gehört aber mit seinen 51 Jahren schon der Kategorie „alter weißer Mann“ an und gerät noch dazu unter Druck, weil er im Zuge der Corona-Krise an die Grenzen der Political Correctness stößt und an den staatlichen Maßnahmen ebenso Kritik übt wie an Verschwörungsmythen. Überdies wird Siebenstädter wie einst Koeppens Keetenheuve Opfer seiner ausschweifenden sexuellen Begierden und vernachlässigt dabei seine Frau Irene genauso wie seine Teenager-Tochter Nora, die ihm allmählich entgleitet. Kurzum: Der Mann driftet aus persönlicher Unzulänglichkeit und aufgrund gesellschaftlich-politischer Umstände mehr und mehr ab.
Der Plot endet damit, dass Siebenstädter den Posten des Sprechers der liberalen Partei angeboten bekommt und kurz darauf während einer Sendung so haltlos-unbotmäßige Fragen stellt, dass sein Karriereende die unvermeidliche Folge ist. „Es war aus. Es war alles zu Ende“, heißt es am Schluss. Siebenstädter stirbt beim Überqueren einer Straße, wobei offenbleibt, ob es ein Unfall oder Selbstmord ist.
Wer das Regierungsviertel kennt, der erkennt vieles wieder: das vielfach verschachtelte Ernst-Lemmer-Haus etwa mit seinen zahlreichen verglasten Abgeordneten-Büros, das in echt den Namen Jakob-Kaiser-Haus trägt, das ARD-Hauptstadtstudio an der Spree oder die Parteizentrale der FDP. Insofern ist es gewissermaßen ein Dokuroman. Das gilt nicht minder für die Personen, denen Peters kaum Verfremdung angedeihen lässt.
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Unschwer im Roman zu erkennen: Gesundheitsminister Karl Lauterbach.
© Quelle: IMAGO/Bernd Elmenthaler
Über Lauterbach alias Prof. Rolf Bernburger darf man lesen, er sei ein „hypochondrischer Zwangsneurotiker“ und ernähre „sich seit zwei Jahrzehnten vegetarisch, weniger wegen des Klimas als wegen der karzinogenen Wirkung von Fleisch und Wurst“, auch ist vom „am gehobenen britischen Geschmack orientierten Kleidungsstil“ des einstigen Fliegenträgers die Rede, dessen geschiedene Ehefrau ihm gelegentlich publikumswirksam in die Parade fährt.
Der im Roman amtierende Gesundheitsminister Sven Scheidtchen wird in „Der Sandkasten“ als „Ehrgeizling“ beschrieben, „der jedes Prinzip verriet, sobald es seinen Aufstieg gefährdete“, und hier und da Grenzen nach rechts überschreitet, wenn es zu nutzen scheint. Damit auch kein Zweifel aufkommt, dass Spahn gemeint ist, nimmt Peters Bezug auf dessen reale Immobiliengeschäfte sowie auf ein Spendendinner mit Zuwendungen knapp unterhalb der Nachweispflicht.
Über den „Oberliberalen Martin Buchner“, dem es wie Lindner beinahe im Alleingang gelungen war, den Wiedereinzug seiner Partei in den Bundestag zu sichern, wird vermerkt: „Siebenstädter hielt Buchner für einen eiskalten Machtmenschen, einen abgebrühten Taktiker, einen eitlen Schönling, doch aus Gründen, die ihm nicht klar waren, mochte er ihn trotzdem irgendwie.“
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Nimmt das Berliner Regierungsviertel auseinander: Autor Christoph Peters.
© Quelle: Markus Decker
Am schlechtesten erwischt es Kubicki, der als Lothar Radunski firmiert. Er wird als „holsteinischer Lebemann“ ins Zwielicht geschoben, der gern die nächste Runde Hochprozentiges bestellt und über den die Vertreterin einer konkurrierenden Partei erbarmungslos urteilt, er sei „der Prototyp einer überholten Politikergeneration, skrupellos, machtgeil, sexistisch: der fleischgewordene Herrenwitz“.
Dazwischen geht es stets aufs Neue um Kurt Siebenstädter, der Teil des Betriebs ist und es doch nicht sein will und der fürchtet, dass „eine politisch korrekte Mittvierzigerin oder ein It-Girl, das den Zeitgeist der Zukunft repräsentierte“, bald seinen Platz einnehmen könnte. Als Lustobjekte sind Frauen erwünscht, als Konkurrentinnen gefürchtet.
Politik in Berlin ist demnach in Ausnahmefällen Kampf um eine bessere Welt – aber mehr noch ein zynisches Business voller Intrigen, das nicht zuletzt mit diesem Satz messerscharf charakterisiert wird: „Niemand war unverwundbar, keine Karriere verlief so sauber, dass der steile Aufstieg nicht im Verborgenen auch die Gründe für den späteren Absturz mitlieferte.“
Bei Christoph Peters gilt das sogar für Journalisten.
Bittere Wahrheit
Das Prinzip Habeck geht so: Auftritte filmreif, handwerkliche Umsetzung bedenklich und am Ende zahlt der Bürger drauf.
Dirk Wiese
stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion
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Dirk Wiese, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, steht bereit, um auf Robert Habeck zu zeigen.
© Quelle: European Games 2019/obs
Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck hatte zuletzt das, was man im Sport „einen Lauf“ nennt: Dem Grünen-Politiker gelang einfach alles. Die Sache mit der Gasumlage allerdings ist ihm nach dem Urteil vieler Beobachter und Fachleute misslungen. Dass so etwas früher oder später mal passieren würde, war absehbar. Ebenso absehbar war die Freude der Habeck-Gegner, die jetzt Festspiele veranstalten.
Dass die härtesten Urteile aus der SPD kommen, überrascht dann aber doch ein bisschen – zumal sie nicht unbedingt klug sind. Denn sie lenken die Aufmerksamkeit vom Angegriffenen auf den Angreifer und sorgen so dafür, dass sich die Reihen um Habeck schließen. Klüger wäre es von Wiese gewesen, ihn durch gezielte Nadelstiche im eigenen Fehler schmoren zu lassen. Doch diese Kunst beherrscht nicht jeder.
Wie das Ausland auf die Lage schaut
Zur Debatte über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland meint die „Neue Zürcher Zeitung“:
„Ein Senderverbund, der Jahr um Jahr zuverlässig, risikolos und meist in zunehmendem Umfang von der Allgemeinheit finanziert wird, hat die Tendenz, sich permanent auszudehnen. Wo quantitatives Wachstum sich dank sprudelnden Beitragssummen von selbst versteht, ist jedes Gesundschrumpfen eine Denkunmöglichkeit.
Eine Rosskur wäre gleichwohl das Beste, sowohl für die Beitragszahler als auch für das duale System. Das hieße: Abbau der Sender, Abbau des Personals, Abbau des Programms und eine deutliche Reduktion des Pflichtbeitrags, mindestens um die Hälfte. Die Devise müsste lauten: Akzeptanz durch Exzellenz, Klasse statt Masse. Heute produzieren die öffentlich-rechtlichen Anstalten in Deutschland rund 400 Stunden Fernsehen und knapp 1500 Stunden Radioprogramm täglich. Ein Bruchteil davon, ein klug verknapptes Angebot statt des Rundum-sorglos-Pakets aus Wiederholungen und Dubletten, würde reichen.
Nicht erst der Skandal beim RBB hat gezeigt: Es ist an der Zeit, dass die beitragsfinanzierten Anstalten demütiger werden und selbstkritischer. Ihr Eigenlob und ihre oftmals vorformatierte Weltsicht sollten sie durch echte Neugier auf die Welt ersetzen.“
Zum dreitägigen Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in Kanada schreibt die kanadische Zeitung „Toronto Star“:
„Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz war diese Woche auf Einkaufstour in Kanada und streifte etwas verzweifelt durch die Rohstoffabteilung. Kanada wird Wasserstoff aus emissionsarmen oder erneuerbaren Ressourcen entwickeln – mit dem Ziel, ihn bis 2025 nach Deutschland zu exportieren. Das ist ein ehrgeiziger Zeitplan, da die Infrastruktur noch gar nicht gebaut ist. Doch so sehr Kanada auch Verbündeter in Sachen Energie sein möchte, kann das Land kurzfristig nicht viel tun, um Deutschland vor den Folgen der Entscheidung zu bewahren, seine Energieversorgung von Moskaus Launen abhängig zu machen.
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Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem Besuch in Kanada, hier mit Premierminister Justin Trudeau.
© Quelle: Adrian Wyld/Canadian Press via Z
Der Aufbau von Infrastruktur für den Transport von Energieprodukten (zum Verkaufsziel) oder die Errichtung der Infrastruktur für ihre Produktion ist keine schnelle Sache. Es ist auch nicht einmal gewiss, denn die Energieunternehmen haben mit den unzähligen Vorschriften zu kämpfen, die mit solchen Megaprojekten einhergehen, und befürchten, dass die Regierung die Vorschriften auf halbem Wege ändern könnte.
Der Besuch von Scholz bestätigte, dass Kanada viel zu bieten hat. Russlands aggressive Haltung bei seiner Energiepolitik hat der Entwicklung sauberer Energien einen unerwarteten, aber willkommenen Auftrieb gegeben. Die Frage ist, ob Kanada die Erwartungen erfüllen kann.“
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Das Autorenteam dieses Newsletters meldet sich am Donnerstag wieder. Dann berichtet meine Kollegin Eva Quadbeck. Bis dahin!
Herzlich
Ihr Markus Decker
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