Olaf Scholz und die Klimaaktivisten: Nazi-Vergleiche sind vermintes Gelände
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Bundeskanzler Olaf Scholz auf dem Podium des Katholikentags in Stuttgart.
© Quelle: IMAGO/epd
Liebe Leserin, lieber Leser,
heute ist wieder mal so ein Tag, an dem der Kalauer „Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich“ zu hohen Ehren kommt. Und heute gilt der Kalauer dem Kanzler höchstpersönlich. Olaf Scholz hatte Klimaaktivisten, die ihn beim Stuttgarter Katholikentag störten, zugerufen: „Ich sage mal ganz ehrlich, diese schwarz gekleideten Inszenierungen bei verschiedenen Veranstaltungen von immer den gleichen Leuten erinnern mich an eine Zeit, die lange zurückliegt und Gott sei Dank vorbei ist.“
Zwar wies die stellvertretende Regierungssprecherin Christiane Hoffmann den Verdacht, der Sozialdemokrat habe den Nationalsozialismus gemeint, inzwischen als „absurd“ zurück. Was er meinte, konnte oder wollte sie aber nicht sagen. Das passt ins Bild.
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Scholz hat, das stellt sich in seiner nun fast sechsmonatigen Amtszeit immer öfter heraus, eine kurze Zündschnur. Wer seine Sicht der Dinge nicht teilt, dem bringt er diese Sicht gern offensiv nahe. Positiv ausgedrückt, könnte man sagen: Er wehrt sich – anders als seine Vorgängerin Angela Merkel, deren Gegenwehr darin bestand, alle Attacken stoisch an sich abperlen zu lassen, was ihren Ruhm mehrte.
Ein anderer Regierungschef, der sich wehrte, war Helmut Kohl. Und das im Zweifel physisch. Als der christdemokratische „Kanzler der Einheit“ am 10. Mai 1991 auf dem Marktplatz von Halle an der Saale sprach, da wurde er aus der Menge heraus mit Eiern beworfen. Kohl fackelte nicht lange und lief in die Richtung, aus der die Eier kamen. „Da ich nicht die Absicht habe – wenn jemand vor mir steht und mich bewirft – davonzulaufen, bin ich eben auf die Menschen zu. Und da hat ein Gitter dazwischengestanden. Das war von Nutzen“, sagte er später in der Bundespressekonferenz. Gemeint war wohl: für die körperliche Unversehrtheit des Opfers sowie die politische und juristische Unversehrtheit seiner selbst.
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1991 wurde Helmut Kohl auf dem Marktplatz von Halle an der Saale mit Eiern und Farbbeuteln beworfen.
© Quelle: picture alliance / ASSOCIATED PRESS
Der Angreifer war ein gewisser Matthias Schipke, Mitglied der Jungsozialisten, der mit Sorge darauf blickte, dass in Ostdeutschland die Zahl der rentablen Betriebe immer kleiner und die Zahl der Arbeitslosen immer größer wurde. „Das neue Deutschland hat mich bedroht“, erklärte er rückblickend. „Es hat mir Angst gemacht. Und es war natürlich nicht unbedingt das Deutschland, was ich mir erhofft habe.“ Das mit der Angst ist insofern interessant, als die Klimaaktivisten und ‑aktivistinnen über 30 Jahre später ebenfalls Angst haben – wenngleich vor etwas ganz anderem.
Schipke, den Kohl beinahe am Schlafittchen gepackt hätte, hat sich für den Eierwurf in allen Ehren entschuldigt. Kohl hat auf eine Anzeige verzichtet. Auf jeden Fall hat er es besser gemacht als 2001 der Spitzenkandidat der Berliner CDU bei der Abgeordnetenhauswahl, Frank Steffel. Er wurde bei einer Kundgebung auf dem Alexanderplatz auch mit Eiern beworfen. Doch statt den Angreifern die Stirn zu bieten, ging Steffel hinter dem CSU-Vorsitzenden Edmund Stoiber in Deckung. Sein politischer Niedergang ließ dann nicht mehr lange auf sich warten.
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Der Berliner Wahlkampfauftakt der Union endete 2001 mit einem Tumult auf dem Alexanderplatz. Der Berliner CDU-Spitzenkandidat Frank Steffel stand mitten auf dem Alexanderplatz zusammen mit Angela Merkel, Edmund Stoiber und Friedrich Merz auf einer Bühne, die von allen Seiten mit Eiern beworfen wurde.
© Quelle: picture-alliance / Berliner_Zeitung
Sich zu wehren kann also fruchtbringend sein. Davon, es mit einem mindestens angedeuteten Nazi-Vergleich zu tun, ist jedoch dringend abzuraten. Kein Gelände ist so vermint wie dieses.
Ein paar prominente Nazi-Vergleiche
2002 verglich die damalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin den US-Präsidenten George W. Bush vor dem Hintergrund des nahenden Irak-Krieges indirekt mit Adolf Hitler; die Aufregung war enorm. Die Presseleute der resoluten Sozialdemokratin behaupteten, das, was ihr zugeschrieben worden sei, habe sie nicht gesagt und nicht gemeint. Was sie gesagt beziehungsweise gemeint hatte, verschwiegen sie allerdings. Nach der Bundestagswahl jenes Jahres suchte man Däubler-Gmelin auf der Kabinettsliste vergeblich.
2012 sagte der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung, Andreas Köhler, den Satz: „Julius Cäsar, Karl der Große, Napoleon, Adolf Hitler, Angela Merkel – die Liste der Staatsleute, die versuchten, Europa zu einigen, ist sehr lang.“ Auch Köhler musste schmerzlich erfahren: Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich.
2021 sagte der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes, Fritz Keller, sein Vize Rainer Koch verhalte sich wie der berüchtigte NS-Richter Roland Freisler. Das sagte weniger über Kellers Geschichtskenntnisse als über die Stimmung im DFB. Der Präsident wurde mittlerweile ausgewechselt.
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Fritz Keller ist Präsident des Deutschen Fußball-Bundes.
© Quelle: Arne Dedert/dpa
Der Fridays-for-Future-Aktivist Jakob Blasel, über 40 Jahre jünger als Scholz, befand jetzt, dessen angedeuteter Vergleich mit den Nationalsozialisten sei „auf jeden Fall unangemessen. Und er reiht sich ein in ein Muster. Bei Kritik reagiert der Kanzler sehr dünnhäutig. Wir erwarten, dass er sich entschuldigt.“
Bittere Wahrheit
Diese Maschine kennt uns nach kurzer Zeit.
Winfried Kretschmann,
Ministerpräsident von Baden-Württemberg
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Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg, beim Katholikentag.
© Quelle: Marijan Murat/dpa
Winfried Kretschmann geht manchmal ins Internet. Das hat der 74-Jährige mit ungefähr der Hälfte seiner Altersgruppe gemein. Was er im Internet erlebt, hat der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg jetzt beim Katholikentag in Stuttgart erzählt.
„Das Tolle ist ja und auch das Beängstigende: Diese Maschine kennt uns nach kurzer Zeit“, sagte er. Er schaue sich zum Beispiel gerne Opern auf der Videoplattform Youtube an. Und längst wisse das Netz, „was mir besser gefällt und wo mein Geschmack liegt“. Zudem sei es „noch so raffiniert“, weil es „wahrscheinlich rausgefunden hat, dass ich ein Mann bin, denn ab und zu kommt ein Porno dazwischen. Und ich denke, was ist jetzt das?“
Ob er ausgerechnet auf dem Katholikentag Antworten gefunden hat, ist nicht überliefert.
Wie das Ausland auf die Lage schaut
Die Londoner „Times“ kommentiert die deutsche Ukraine-Politik:
„Deutschlands Ausflüchte hinsichtlich der Lieferung von Waffen und Hilfsgütern an Kiew und seine Unentschlossenheit in Bezug auf die Bedingungen für einen Waffenstillstand sowie ein Ende des Krieges sind für seine Verbündeten und auch für viele Deutsche zu einer Quelle der Frustration geworden. Das Fehlen einer entschlossenen Führung durch Bundeskanzler Olaf Scholz birgt die Gefahr, dass Moskau ermutigt wird, was wiederum Präsident Wladimir Putin in seinem Glauben bestärkt, dass er sich letztendlich durchsetzen kann.
Die Unentschlossenheit von Olaf Scholz ist umso enttäuschender, als er anfangs sehr energisch auf die Invasion reagierte. In einer Rede im Februar bezeichnete er den Krieg als eine Zeitenwende. Die widersprüchlichen Botschaften von Olaf Scholz gegenüber der Ukraine bergen das Risiko, die Sicherheitslage zu verschlechtern. Eine robustere Haltung gegenüber Russland wäre im besten Interesse seiner Partei, seines Landes, Europas und letztlich der Welt.“
Zur Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) beim Weltwirtschaftsforum in Davos schreibt die italienische Zeitung „Corriere della Sera“ aus Mailand:
„Olaf Scholz sucht nicht die Spezialeffekte, die oft nur das Produkt eitler Politiker sind. Er ist ein Mann von Substanz, dieser deutsche Kanzler, und das ist seine Stärke. Wenn es aber eine Erkenntnis gibt aus der Rede, die er in Davos hielt, dann ist es nicht das, was er gesagt hat, sondern was er nicht gesagt hat. Denn er hat nicht über Europa gesprochen.
Er hat verständlicherweise von Deutschland geredet, aber nicht von Europa. Er hat die Aggression Putins verurteilt, aber kein bisschen menschliche Wärme für die Ukrainer gezeigt. Er hat auch seine Abneigung gezeigt gegenüber der Idee, dem Land den Kandidatenstatus für die EU zuzusagen, denn – so sagte er – andere Regierungen auf dem Balkan warten schon länger. Und er hat keinen Gedanken verschwendet auf die Vorschläge von Mario Draghi und Emmanuel Macron für ein Europa, das besser strukturiert gehört. Demgegenüber wirkte Angela Merkel wie eine Visionärin.“
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