Der Enkel des KZ-Kommandanten
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„Man kann sich nicht vorstellen, dass ein Enkel diesen Weg geht“: Rainer Höß im November 2019 in Toronto.
© Quelle: imago images/ZUMA Press
Weil der Stadt. Der Begegnung mit dem Enkel geht ein Witz voraus, ein schwieriger Witz, aber es wirkt, als könne er ihn nicht lassen, jetzt, wo er ihn schon mal im Kopf hat.
Jedenfalls antwortet Rainer Höß auf die Nachricht, dass sein Besucher wegen eines akuten S-Bahn-Chaos im Raum Stuttgart erst eine Stunde später bei ihm sein wird: „Keine Sorge, das ist die Regel bei der Deutschen Reichsbahn.“
Und wie um zu betonen, dass das jetzt kein Versehen war, kein Ausrutscher, wird er ihn zum Abschied, beim Blick auf den Fahrplan, noch mal wiederholen: Ja, die Reichsbahn …
Darf man das sagen? Wenn man der Enkel eines Mannes ist, der 1,1 Millionen Menschen ermorden ließ, die zuvor von der Reichsbahn in das Vernichtungslager gebracht worden waren, über das er herrschte?
„Ohne Humor“, sagt Rainer Höß, „hält man es doch kaum aus.“ „Es“, das ist Auschwitz, sein Lebensthema.
Man kann diesen Witz also geschmacklos finden. Oder in ihm, mit Rainer Höß, einen Akt gelegentlicher Notwehr gegen die erdrückende Schwere von etwas Übergroßem sehen.
Rudolf Höß liebte Hunde, Pferde, Vögel – und ließ Menschen vergasen
Weil der Stadt ist eine Kleinstadt nahe Stuttgart. Hier, in einer Etagenwohnung am Rande der Altstadt, wohnt Rainer Höß, 54 Jahre alt, der Enkel von Rudolf Höß, dem Kommandanten von Auschwitz.
Rudolf Höß befehligte die „größte Menschenvernichtungsanlage aller Zeiten“, wie er Auschwitz stolz nannte. Und zugleich war er Vater von fünf Kindern, mit denen er im Garten seiner Villa spielte, während wenige Meter weiter Frauen, Männer, Kinder in den Gaskammern schrien, sich im Todeskampf aneinander klammerten und qualvoll erstickten. Rudolf Höß liebte Hunde, Pferde, und er sorgte sich so sehr um die Vogelwelt, dass er einen SS-Mann abstellte, um eine Untersuchung über Pirole und Kleiber in Auschwitz zu schreiben. Und zugleich ließ er die toten Körper der Menschen auf Haufen werfen und im Öl verbrennen, als die Krematorien die Massen trotz Dauerbetriebs nicht mehr bewältigten.
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Rudolf Höß und seine Familie im Jahr 1943.
© Quelle: Rainer Höß/IFZ München
Das also war sein Opa. Hat Rainer Höß je überlegt, seinen Namen zu ändern? Die Last dieser Familiengeschichte, dieser Verbrechen, zumindest auf diese Weise hinter sich zu lassen?
„Nein“, sagt Rainer Höß. „Mein Name ist die beste Waffe im Kampf gegen rechts“, sagt er.
Es ist eine mächtige Waffe. Die will er nicht aus der Hand legen. Sie sorgt dafür, dass man ihm zuhört. In Schulen, Konferenzen, Interviews und wo immer er die Verbrechen seines Großvaters benennt und vor neuen Rechten warnt.
Aber es ist auch eine gefährliche Waffe, weil sie sich manchmal gegen ihn selbst richtet. Dann, wenn er wieder etwas sagt oder tut, was man als Enkel von Rudolf Höß besser nicht sagt oder tut. Wenn ihm zum Beispiel kaugummikauend beim Anblick der Höß-Villa in Auschwitz ein „Wow!“ entfährt, wie es ihm vor zehn Jahren passierte, während Journalisten ihn begleiteten und jedes Wort, jede Geste genauestens protokollierten.
Ob er manches bedauert? „Ich würde auch heute nichts ändern“, sagt Rainer Höß, zu dessen Haupteigenschaften eine spezielle Art von Trotz gehört.
„Ich glaube, die Zärtlichkeit war echt“
Geboren wurde er 1965, 18 Jahre nachdem sein Großvater als Kriegsverbrecher in Auschwitz aufgehängt worden war. Rainer Höß kannte also nicht ihn, er kannte nur die Geschichten über ihn. Erzählt hat sie ihm Leopold Heger, der frühere Fahrer seines Großvaters, für Rainer Höß lange eine Art Ersatzopa. Diese Geschichten handelten jedoch nicht vom Massenmord, sondern von einem sensiblen Menschen, der bei einem Angriff das Leben seines Angestellten rettet, seinen Sohn zärtlich „Burling“ nennt und seiner Frau die Hand auf den nackten Bauch legt, als sie schwanger ist.
Es ist kein falsches Bild, das ihm gezeichnet wird. Es ist nur nicht vollständig. Rudolf Höß war, so schildern es Überlebende wie Psychiater, die ihn nach dem Krieg explorierten, kein Sadist, aber empathielos. Ein zurückhaltender Mensch, unfähig oder nicht willens zum Mitgefühl und bereit, Befehle mit brutalster Konsequenz zu befolgen.
„Ob die Massenvernichtung der Juden notwendig war, darüber erlaubte ich mir kein Urteil, so weit konnte ich nicht sehen“, schrieb er in seinen Memoiren.
„Ich glaube, die Zärtlichkeit war echt“, sagt Rainer Höß heute. „Aber sobald er sein Koppelschloss zugemacht hat, war er nur noch der Kommandant.“
Dann kannte er nur noch Befehle. Aufbegehrt hat er nie.
Ob er, Rainer, Eigenschaften seines Großvaters geerbt hat? Rainer Höß zeigt umher, im Wohnzimmer seiner Etagenwohnung, das penibel aufgeräumt ist, zeigt das Regal, in dem die Bücher Kante an Kante stehen, keines ragt aus der Reihe, alles NS-Literatur, von der kritischen Edition von „Mein Kampf“ bis zu den Werken über seinen Großvater.
„Dieses Akkurate“, sagt er, „und den Willen, Dinge umzusetzen: Das habe ich von ihm.“ Das ist der Teil der Geschichte, dem er nicht entkommen kann.
Auf dem Schoß der Heydrich-Witwe
Daheim, in seinem Elternhaus, bleibt der Großvater lange eine Leerstelle. Stößt Rainer zufällig einmal irgendwo auf den Namen, erklären seine Eltern das zum Schreibfehler: Das müsse „Heß“ heißen, nicht „Höß“. Das Buch „Kommandant in Auschwitz“, die Erinnerungen des Großvaters, verbieten sie ihm lange Zeit zu lesen. Als seine Mutter es ihm mit 15 doch erlaubt, ergibt plötzlich alles einen Sinn. Das Verbot, den jüdischen Mitschüler einzuladen, mit dem er sich angefreundet hatte. Die Prügel, die Strenge und Kälte in seiner Familie, die sich, wie er sagt, nie vom Nationalsozialismus distanziert habe.
Rainer Höß' Gedächtnis ist voller Familienanekdoten, in denen lauter große NS-Namen auftauchen: Heydrich zum Beispiel, Lina Heydrich, die Witwe des Holocaust-Cheforganisators Reinhard Heydrich, auf deren Schoß er als Junge sitzt.
So wächst er auf. Als habe es nie einen Bruch gegeben. Und beschließt, dass, wenn sein Vater schon nicht rebelliert, er es umso gründlicher tun wird. Mit Prügel, Drogen, allem. „Ich war gegen die ganze Welt“, sagt Rainer Höß. Und die „ganze Welt“, sie manifestiert sich für ihn vor allem in seinem Vater, der sich nie von der NS-Welt des Großvaters gelöst habe.
Rainer Höß bricht mit ihm. Seit er 20 ist, haben sie keinen Kontakt mehr.
„Ich weiß, dass er noch lebt“, sagt Rainer Höß. Das muss reichen.
Provokateur mit Mission
Rainer Höß wird Koch. Und Vater. Und als ihn später der Lehrer einer seiner Söhne fragt, ob er in der Klasse über seinen Großvater berichten mag, sagt er zu. Wenn in seiner Familie sonst niemand geredet hat, dann wird er es eben umso ausführlicher tun. Es ist ein Akt der Rebellion. Gegen seinen Vater, seine Familie, die Vergangenheitsverdrängung, wie er es empfindet, in der alten Bundesrepublik.
„Die Justiz hat für mich auf der ganzen Strecke versagt“, sag Rainer Höß. Auch sie müsste man aus seiner Sicht hinzufügen.
Sich selbst sieht er als „Gegen-den-Strom-Schwimmer“. Als Provokateur mit einer Mission: dafür zu sorgen, dass niemals wieder jemand etwas tun kann wie sein Großvater. Und dass er mit der Geschichte seiner Familie so gründlich aufräumt, dass seine Kinder damit nichts mehr zu tun haben.
Manche jedoch nehmen ihm die hehren Ziele nicht ab. „Es ist reiner Opportunismus, der ihn antreibt“, urteilte Eldad Beck, ein Israeli, der ihn 2009 nach Auschwitz begleitete. „Er interessiert sich nicht wirklich für Birkenau, sondern ausschließlich für seine eigene Geschichte.“
Die Sätze hängen ihm nach. Genauso wie die Geschichte, dass er der Gedenkstätte Yad Vashem angeblich Hinterlassenschaften seines Großvaters zum Kauf angeboten habe. Was Rainer Höß bestreitet und als widerlegt ansieht.
Aber er hat eine Erklärung, warum er immer wieder auch auf Widerspruch stößt: „Man kann sich nicht vorstellen, dass ein Enkel diesen Weg geht.“
Oder man nimmt ihm seinen Weg, seine Mission, übel. So wie die Rechtsextremisten, die ihn bedrohen.
Die Auschwitz-Nummer auf der Brust
Auf der anderen Seite hat er auch zu vielen Überlebenden von Auschwitz engen Kontakt. Eine von ihnen war Eva Kor, die Josef Mengele gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester für Menschenversuche missbrauchte. Sie adoptiere Rainer Höß, sagte sie einmal, als Ersatz für eigene Enkelkinder. „Und ich“, sagte Höß mal, „brauchte eine gute Oma.“
Rainer Höß hat sich daraufhin ihre Auschwitz-Nummer tätowieren lassen, zusammen mit einem Davidstern. A-7063, so steht es jetzt auf seiner Brust, als „Geste des Respekts“.
Ist das noch Respekt? Empathie? Oder doch eher Anmaßung?
In der kleinen Wohnung in Weil der Stadt hat Rainer Höß auch ein Büro. Er hat eine Organisation gegründet, zusammen mit drei Unterstützern, Footsteps. Bildungsarbeit zum Holocaust, gegen Rechtsextremismus, auch Recherchen zur Familiengeschichte – das sind seine Felder. Rainer Höß ist jetzt sozusagen im Hauptberuf Enkel, es füllt seine Tage aus. Zum 75. Jahrestag der Befreiung wird er in Auschwitz sein, um die Überlebenden zu treffen, zu denen er Kontakt hält. Es ist ihm wichtig.
„Mein Großvater hat meinem Leben einen Stempel aufgedrückt“, sagt Rainer Höß.
Vor ein paar Wochen, im alten Jahr noch, hat er auch einige von ihnen bei einer Konferenz in Kanada getroffen. Vor 1500 Schülern habe er da gesprochen, erzählt er. Aber bevor er begann, habe er die jungen Leute gebeten aufzustehen.
Dann habe er sie zwei Minuten stehen lassen. Ohne etwas zu sagen.
„Und dann habe ich zu ihnen gesagt: Seht ihr, ein Deutscher ist hier, und schon steht ihr zwei Minuten einfach still.“
Er habe zeigen wollen, wie leicht Massen manipulierbar sind, sagt Höß. Wie schnell man sie dazu bringen könne, eigentlich widersinnige Dinge zu tun. Rainer Höß fand, die Aktion war ein Erfolg. Eine Provokation nach seinem Geschmack.
„Ich gehe meinen Weg“, sagt er dann noch zum Ende, „und es ist mir egal, wenn ich jemandem auf den Fuß trete.“ Und so wie er dabei klingt, scheint er fest damit zu rechnen, dass dies auch geschehen wird. Zwangsläufig, als Teil des Plans.