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Menschheit in der Realitätskrise

ChatGPT: Was, wenn die allwissende Maschine Lügen verbreitet?

Allwissend? Oder ein Lügner? ChatGPT auf einem Tabletcomputer.

Allwissend? Oder ein Lügner? ChatGPT auf einem Tabletcomputer.

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Die ganze Welt verneigt sich derzeit vor dem scheinbar allwissenden, durch künstliche Intelligenz (KI) unterstützten Dialogsystem ChatGPT.

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Die ganze Welt? Nein. David Smerdon (40), Schach-Freak und Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Queensland in Australien, brachte das hochgelobte System dieser Tage mal eben ins Schleudern.

Smerdon fragte ChatGPT: „Welches ist die meistzitierte wirtschaftswissenschaftliche Arbeit aller Zeiten?“ ChatGPT antwortete: „A Theory of Economic History“ von Douglass North und Robert Thomas. Der Beitrag, schrieb ChatGPT, sei „ein Klassiker der Wirtschaftsgeschichte“ und 1969 im Journal of Economic History veröffentlicht worden.

Mogelei wie bei einem Trickbetrüger

Die Antwort klingt gut, die beiden Autoren existieren tatsächlich. Eine solche gemeinsame Arbeit aber ist nie veröffentlicht worden, weder 1969 noch sonst irgendwann. ChatGPT hatte den Titel „A Theory of Economic History“ schlicht zusammen fabuliert. Die Maschine folgte dabei Algorithmen, die auf nichts anderem als Sprachanalyse beruhen, auf der Häufigkeit von Wörtern und auf Wahrscheinlichkeiten in ihrem Verhältnis zueinander.

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Er kam ChatGPT auf die Schliche: David Smerdon, Wirtschaftswissenschaftler an der University of Queensland in Australien.

Er kam ChatGPT auf die Schliche: David Smerdon, Wirtschaftswissenschaftler an der University of Queensland in Australien.

Mit anderen Worten: ChatGPT hat sich nach Art eines Trickbetrügers mal eben etwas zusammengereimt. Nichts stimmt - aber alles wirkt plausibel.

Weltweit fallen Nutzern von KI-gestützten Dialogsystemen jetzt Phänomene dieser Art auf. Googles Chatbot Bard behauptete, das James-Webb-Teleskop habe „die allerersten Bilder eines Planeten außerhalb des irdischen Sonnensystems gemacht“ - die Fachwelt winkt ab, es stimmt einfach nicht.

Auf die Frage, welche deutschen Unternehmenschefs Autobiografien verfasst haben, lieferte ChatGPT eine auf den ersten Blick glaubwürdige Liste, die sich dann aber Punkt für Punkt als Fake entpuppte. Weder hat SAP-Gründer Dietmar Hopp ein Buch mit dem Titel „Mein Weg - Erfolg durch Beharrlichkeit und Zusammenhalt“ geschrieben, noch fasste Joe Kaeser seine Zeit als Konzernchef unter dem Titel zusammen „Meine Transformation - Wie ich Siemens veränderte“.

Bei manchen Leuten, vor allem in Deutschland, ist die Maschine mittlerweile schon unten durch. „Hakt man in solchen Fällen bei ChatGPT nach, beharrt die KI erst auf ihren Fehler“, mokiert sich die „Süddeutsche Zeitung“. „Dann gibt es Ausreden. Ist man zu hartnäckig, meldet sich der Chatroboter mit einer Fehlermeldung ab.“

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Aber darf man über eine Maschine schimpfen, als habe sie soeben charakterliche Mängel offenbart?

Wachsender Markt für „Bullshit“

Die „Financial Times“ denkt in kühler britischer Art schon eine Umdrehung weiter und nimmt den wachsenden Markt für maschinell geformte Unwahrheiten aller Art in den Blick: „Bullshit ist auf der ganzen Welt sehr gefragt, und wenn er billig genug ist, wird er in riesigen Mengen geliefert.“

Tatsächlich erscheint das Festhalten an der Wahrheit mehr denn je als altes Denken. In der sich rund um den Globus ausbreitenden Aufmerksamkeitsökonomie des Internets ist längst nicht mehr wichtig, ob eine Aussage wahr ist oder falsch. Entscheidend ist, dass sie gelesen wird. Dann nämlich wird auch die Werbung wahrgenommen. Das Geld wandert, sagt man in der Branche, in die Richtung, in die die Augäpfel wandern.

Zu den Wegweisern dieses unseligen Trends gehörten die mazedonischen Teenager, die jahrelang mit immer neuen frei erfundenen Falschmeldungen rund um Donald Trump viel Aufmerksamkeit auf ihre Internetseiten lotsten - und über die aufgeschaltete Werbung zu erstaunlichen Einnahmen kamen. „Die mazedonischen Teenager und ChatGPT demonstrieren denselben Punkt“, meint der Bestseller-Autor Tim Harford („The Next Fifty Things That Made the Modern Economy“). „Es ist nun mal viel einfacher, interessante Geschichten zu schreiben, wenn man nicht durch Respekt vor der Wahrheit eingeschränkt wird.“

Eine weltweite Krise der Realität

Genau dieser Respekt lässt derzeit weltweit nach wie noch nie. Auf Finanzkrise und Klimakrise könnte eine Krise der Realität folgen, wie sie die Menschheit noch nicht erlebt hat.

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In China und Russland lotst eine diktatorische Obrigkeit seit Langem die Menschen weg vom Faktischen. Im Westen könnten bald prickelnde Verschwörungserzählungen aus KI-gestützten Chatbots denselben Effekt bewirken.

Was, wenn sich diese Faktoren addieren? Die amerikanische Anti-Fake-News-Organisation „Newsguard“ warnt bereits vor einem globalen „Superspreading“ von Unwahrheiten durch Systeme wie ChatGPT.

Im Jahr 2022 pusteten Wladimir Putin und Xi Jinping über ihre Staatsmedien der eigenen Bevölkerung die Falschmeldung ins Hirn, die Ukraine forsche in Biowaffenlabors an Viren, die nur für Russen tödlich seien. Im Westen tippten sich damals viele augenrollend an den Kopf: Wer glaubt schon einen solchen Blödsinn? Was aber geschieht künftig, wenn KI-Chatbots im Westen China und Russland unterstützen?

Nie gab es eine so effiziente Möglichkeit, Millionen moderner Menschen etwas vorzugaukeln - auch jenen, die sich für kritisch halten und für intelligent. Die neuen Maschinen können, spielend und weniger erkennbar denn je, die sozialen Netzwerke unterwandern und dort Trends in Gang bringen. Sie können gezielt einem Einzelnen vorgaukeln, er sei umgeben von immer mehr Leuten, die denken wie er. Sie können sogar visuelle Beweise aller Art vorlegen: Videos, Bilder, 3-D-Ansichten. Eine KI, die binnen Sekunden van Gogh nachahmen kann, hält sich auch mit dem visuellen Generieren eines Biowaffenlabors nicht lange auf. Was, wenn dies alles eines Tages nicht nur bei Wikipedia landet, sondern auch bei Google?

Wenn Wahrheit und Unwahrheit ununterscheidbar werden, gerät die Demokratie ins Wanken. Sie ist angewiesen auf die ununterbrochene frische Luft des Faktischen, auf eine übereinstimmende Weltwahrnehmung durch Regierte und Regierende.

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Für totalitäre Herrscher ist das Abdriften immer weiterer Teile der Bevölkerung ins Irreale ideal. Genau das aber hält unser demokratisches System irgendwann nicht mehr aus. Die Demokratie darf den Kampf ums Wahre nicht aufgeben.

Die Frankfurter Oper auf einem Bild aus den Fünfziger Jahren, als sie von einer Bürgerinitiative unterstützt werden musste.

Die Frankfurter Oper auf einem Bild aus den Fünfziger Jahren, als sie von einer Bürgerinitiative unterstützt werden musste.

Für das Wahre einzutreten, ist nicht irgendein Schnickschnack, es ist der Ausgangspunkt der Aufklärung. „Dem Wahren, Schönen, Guten“ ist, wie ihre in Stein gehauene Inschrift zeigt, zum Beispiel die Frankfurter Oper gewidmet. Das Wahre rangiert, auch wenn es manchmal unerquicklich erscheint, aus gutem Grund an erster Stelle. Wer die Frage von Wahrheit oder Unwahrheit für unwichtig erklärt oder für unentscheidbar, gibt alles auf und fällt drei Jahrhunderte zurück, in eine wahrhaft düstere Zeit.

In der Lüge liegt auch heute Gefahr. Freie Gesellschaften sollten empfindlich reagieren, wenn an irgendeiner Stelle die massenhafte Verbreitung von Unwahrheiten beginnt. Man muss sich das von Menschen nicht bieten lassen - und erst recht nicht von Maschinen, die lügen wie gedruckt.

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