Booster-Chaos? Ich habe das Gegenteil erlebt
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Am Wochenende in Lüneburg: Menschen warten vor dem mobilen Impfzentrum in einer Schlange. Bundesweit besorgen sich derzeit rund 500.000 Menschen pro Tag eine Impfung, die Zahl soll bald auf eine Million pro Tag steigen.
© Quelle: Philipp Schulze/dpa
Diesmal war alles cooler denn je, fast ein bisschen amerikanisch. Ich kam ohne Termin an die Reihe, in einem aus Containern frisch zusammengewürfelten kleinen Impfzentrum auf einem Behördenparkplatz in Hannover.
Der Impfarzt blickte kurz aufs Datum meiner zweiten Covid-19-Impfung: 15. Juni. Eigentlich noch ein bisschen zu früh für den dritten Schuss.
Ich wollte ihm von unserer Mitte Dezember anstehenden Flugreise erzählen und dass die ganze Familie sich in einem gewissen Abstand dazu schon vorher ein drittes Mal impfen lassen wolle. Doch ehe ich ein Wort sagen konnte, hatte er schon sein Kürzel in den Impfpass gekringelt und seinen Stempel draufgedrückt: „Region Hannover – Fachbereich Gesundheit“. Er blickte lächelnd auf und schickte mich zu einer Mitarbeiterin im weißen Sweatshirt, die schon mit der Spritze wartete: Der Nächste bitte.
Was soll man auch groß sagen? Hier in den Containern wird gehandelt, nicht geredet.
Politik zwischen Nichtstun und Chaos
Talkshows gibt es ja genug, abends im Fernsehen: Impfversagen, Staatsversagen und so weiter.
Zuletzt, bei Maybrit Illner, war von einem „Booster-Chaos“ die Rede. Dieses Stichwort hatte ich noch im Ohr auf dem Weg zum dritten Schuss. Und wunderte mich jetzt. Booster-Chaos? Ich habe das Gegenteil erlebt.
Die Politik, lernt man bei Anne Will, Sandra Maischberger und Markus Lanz, versagt immer wieder. Bei Illner hieß es letzte Woche im Einspieler, die „designierte Kanzlerin a. D.“, zuletzt viel im Ausland unterwegs, etwa bei G-20 in Rom, habe „bei einem ihrer Stopover in Germany“ die Corona-Notlage bemerkt. Höhöhö. Da lacht dann auch die AfD.
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In den Talkshows von Moderatoren und Moderatorinnen wie Maybrit Illner (Foto) gibt es drei Varianten des Versagens.
© Quelle: imago images / Metodi Popow
In den Talkshows gibt es drei Varianten des Versagens. Erstens: Die Regierung tut nichts, sie legt die Hände in den Schoß – schlimm. Tut sie etwas (Variante zwei), ist es immer zu spät und zu wenig. Und wenn die Politik sich ausnahmsweise mal beeilt, mehrere Dinge gleichzeitig in Bewegung zu bringen (Variante drei), dann richtet sie ein Chaos an: Jetzt seien die Bürger verwirrt, heißt es dann. 2G, 3G, Booster-Chaos: Wer steigt da noch durch?
Freundliche Stimmung - inmitten der Krise
In Wirklichkeit ist das Boostern gar nicht kompliziert. Wer Personalausweis und Impfpass dabei hat, darf den Ärmel aufkrempeln. Wahrscheinlich ist die Realität des Boosterns aus Sicht von Aufnahmeleitern einer Fernsehshow in Berlin-Mitte einfach zu langweilig. Mitgeteilt sei jedoch, to whom it may concern: Zwischen den Containern in Hannover jedenfalls lief dieser Tage alles ziemlich effektiv, es herrschte sogar eine freundliche, aufgeräumte Stimmung.
Da winkt zum Beispiel ein langhaariger Sanitäter vom Arbeiter-Samariter-Bund einen Mann im Rollstuhl raus aus der Warteschlange. Der Behinderte kommt ein bisschen schneller dran, er soll nicht so lange im Kalten sitzen. Seine Frau ist ein bisschen verunsichert, sie will keine Sonderbehandlung. „Alles gut“, sagt der Helfer und zwinkert ihr mit einem Lächeln zu. „Machen wir immer so.“
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Der Nächste bitte: Ein Helfer vom Arbeiter-Samariter-Bund weist den Weg zum niedrigschwelligen Impfen in Hannover.
© Quelle: Samantha Franson
Da wird das Gegenteil von Chaos vorgeführt, und sogar ein bisschen mehr als das. Man erlebt: regelbasiertes Verhalten plus Solidarität plus jede Menge Menschlichkeit. Dies alles mitten in der Krise.
Eine junge Frau in Jeans und Parka sagt, sie finde es übrigens gut, dass in der Region Hannover in den letzten paar Tagen so schnell neue Impfzentren eröffnet wurden. Es sei ja inzwischen klar, dass es ein Fehler war, die alten zu schließen. Jetzt laufe es doch aber schon ganz gut, sogar ohne Termin. Natürlich müsse jetzt auch jeder Bürger selbst ein bisschen mitziehen und nicht auf irgendetwas „von oben“ warten.
Wurden Fehler gemacht? Ja, verflixt
In diesen lässig ausgesprochenen Worten steckt mehr Weisheit als in vielen verkniffenen Debatten der letzten Wochen in Berlin. Manche Bürger sind ziemlich locker im Knie, sogar im Umgang mit kollektiven Fehlern.
War es ein Fehler, die Impfzentren im Sommer zu schließen? Ja, verflixt. Aber am Ende ist es wie beim Autofahren: Was helfen lange Debatten darüber, wo man in letzter Zeit überall falsch abgebogen ist? Die Fahrt geht ja noch weiter, mit hohem Tempo durch unbekanntes Gelände. Jetzt ist keine Zeit für forschende Blicke in den Rückspiegel. Jetzt hilft wirklich nur der Blick nach vorn.
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Neues Impfzentrum mit neuem Andrang: Wartende in einer Schlange am Wochenende in Groß-Gerau.
© Quelle: imago images/Marc Schüler
Politiker und Talkshowrunden spielen immer noch ihr eitles Spielchen: Deutschland sucht den Superschuldigen. Jene dagegen, die sich schon mal einreihen in die Booster-Schlangen, stellen sich ein auf die neue Lage und machen es wie die Stoiker im alten Griechenland: Sie lassen hinter sich, was nicht mehr zu ändern ist und versuchen, in der Gegenwart die bestmögliche Rolle zu spielen.
Die Kritiker lagen oft selber falsch
„Ihr habt komplett versagt“, ätzte Frank Ulrich Montgomery, Chef des Weltärztebundes, jüngst im Fernsehen mit Blick auf die beiden im Studio anwesenden Politiker: die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt und Kanzleramtsminister Helge Braun. Das hätten die beiden so nicht auf sich sitzen lassen sollen.
In Wahrheit sind auch Ärztefunktionäre nicht ohne Fehl und Tadel. Montgomery zum Beispiel hat sich im ersten Jahr der Pandemie monatelang gegen eine Maskenpflicht ausgesprochen, bis er als einer der letzten zurückruderte, im Oktober 2020. Jemand, der so weit danebenlag, hat keinen Grund zu Selbstgerechtigkeit.
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Politikern hält er Versagen vor, er selbst aber riet monatelang von Masken ab: Frank Ulrich Montgomery, Vorstandsvorsitzender des Weltärztebundes.
© Quelle: imago images/Jürgen Heinrich
Auch manche Medienvertreter sollten mal ein paar Gänge zurückzuschalten. Für „Bild“ zum Beispiel wird es prompt unangenehm, wenn sich mal jemand ihre alten Ausgaben vornimmt. Anfang des Jahres geißelte „Bild“ die „Impfversager der EU“ – die dann unterm Strich eine effektivere Impfkampagne hinbekamen als die USA. Im Sommer bombardierte „Bild“ die Bundesregierung mit Vorwürfen, sie übertreibe die Corona-Gefahren – von denen wir heute wissen, dass sie unterschätzt wurden. Noch am 4. November mokierte sich das Blatt über „die neue Panikmache vor dem angeblichen Horror-Virus-Winter“.
Besonnenheit in aufgeregten Zeiten
Versager gibt es überall, in der Politik, bei den Verbänden, in den Medien. Das Kuriose ist, dass ausgerechnet sie ständig zu sehen sind, weil sie alle Tage wieder auf den bunt beleuchteten Bühnen sitzen und einander mit Vorwürfen überziehen. Die Aufmerksamkeitsökonomie der Medienwelt belohnt die Feindseligkeit: Je doller der Konflikt, desto höher die Einschaltquote.
Wer Menschen erleben will, die es besser machen, die einander zuhören, einander auch mal etwas verzeihen, die ruhig bleiben in aufgeregten Zeiten, der reihe sich ein in die Booster-Schlangen.
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Boostern im Bus: Eine Frau bekommt ihre Auffrischungsimpfung im bayerischen Unterschleißheim.
© Quelle: Sven Hoppe/dpa
Die Ärztinnen und Ärzte, die Helferinnen und Helfer in den Impfzentren leisten in diesen Tagen Großartiges. Sie verändern, indem sie die Impfquote nach oben schieben und den nachlassenden Schutz verbessern, nicht nur das Faktische. Sie bieten auch emotional ein Vorbild für alle: mit ihrem Pragmatismus, mit ihrem Teamgeist und nicht zuletzt mit ihrer Besonnenheit in aufgeregten Zeiten.
Es gibt also, jenseits des Medizinischen, ein weiteres gutes Argument für das Boostern: Die Chancen, in den Impfcontainern ein etwas besseres Deutschland zu erleben als in den Talkshows, stehen gut.