Blutkonserven, Fluchtpläne, ausgesperrte Beobachter: drei schlechte Zeichen in der Ukraine-Krise

Der Aufmarsch geht weiter und weiter: Am Wochenende verbreitete die russische Regierung dieses Bild aus Belarus von frisch verlegten russischen Einheiten – die nun auch von Norden her die Ukraine bedrohen. Anfangs hatte Moskau seine Truppen nur im Osten und im Süden des Landes konzentriert – neuerdings ist ein Zangengriff aus drei Richtungen möglich.

Der Aufmarsch geht weiter und weiter: Am Wochenende verbreitete die russische Regierung dieses Bild aus Belarus von frisch verlegten russischen Einheiten – die nun auch von Norden her die Ukraine bedrohen. Anfangs hatte Moskau seine Truppen nur im Osten und im Süden des Landes konzentriert – neuerdings ist ein Zangengriff aus drei Richtungen möglich.

Vier westliche Militärbeobachter, Offiziere aus den baltischen Republiken, wollten sich am 24. Januar eigentlich mal in den russischen Städten Bryansk und Smolensk umsehen und einen Blick auf die dort stationierten Truppen werfen.

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Im Grunde sprach nichts dagegen. Der Termin war in Moskau angemeldet und eingeplant: eine sogenannte Verifikationsaktivität im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

Im Jahr 2011 hatte auch Russland das „Wiener Dokument über vertrauensbildende Maßnahmen in Europa“ unterschrieben. Es sieht gegenseitige Inspektionen auf dem Territorium des jeweils anderen vor.

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wird derzeit für drei Jahre von einer aus Deutschland stammenden Generalsekretärin geführt, der Diplomatin Helga Schmid (links). Schmid hat einst im Auswärtigen Amt schon für die Außenminister Klaus Kinkel (FDP) und Joschka Fischer (Grüne) gearbeitet. Am 27. Januar traf Schmid die neue deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne).

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wird derzeit für drei Jahre von einer aus Deutschland stammenden Generalsekretärin geführt, der Diplomatin Helga Schmid (links). Schmid hat einst im Auswärtigen Amt schon für die Außenminister Klaus Kinkel (FDP) und Joschka Fischer (Grüne) gearbeitet. Am 27. Januar traf Schmid die neue deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne).

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Russland aber lehnte die Tour nach Bryansk und Smolensk kurzfristig ab – „wegen Covid-19″.

Bis zum 28. Februar, ließ Moskau wissen, seien Verifikationsmissionen von Gästen aus dem Westen untersagt. In der westlichen Öffentlichkeit wurde der Vorfall kaum wahrgenommen. Militärexperten indessen sehen darin einen von drei neuen Hinweisen auf eine sich dramatisch verschlechternde Lage in der Ukraine-Krise.

1. OSZE-Beobachter müssen draußen bleiben

„Russlands Nein zu Beobachtungsmissionen inmitten dieser Krise ist ein sehr schlechtes Zeichen, politisch und militärisch“, sagt der Verteidigungsminister von Estland, Kalle Laanet, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. Das lasse nichts Gutes ahnen mit Blick auf Russlands Grundhaltung: „In einem Moment höchster Anspannung zeigt Russland damit seine Verachtung gegenüber internationalen Abkommen.“

„In einem Moment höchster Anspannung zeigt Russland seine Verachtung gegenüber internationalen Abkommen“: Estlands Verteidigungsminister Kalle Laanet übt im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland scharfe Kritik an der Regierung in Moskau.

„In einem Moment höchster Anspannung zeigt Russland seine Verachtung gegenüber internationalen Abkommen“: Estlands Verteidigungsminister Kalle Laanet übt im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland scharfe Kritik an der Regierung in Moskau.

Der Hinweis Moskaus auf Corona mache alles noch schlimmer, betont Laanet. Jeder wisse, dass das nicht stimme. „Würde sich Russland tatsächlich wegen Corona Sorgen machen, würde es jetzt nicht eine so große Zahl eigener Truppen zu Manövern zusammenziehen.“ In Wirklichkeit zeige sich jetzt, dass Russland auf die Grundsätze von Transparenz und Gegenseitigkeit pfeift, die es vor zehn Jahren in der OSZE-Akte selbst unterschrieben habe.

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Laanet fügte hinzu: „Dieses Verhalten wirft auch grundsätzliche Fragen auf mit Blick auf künftige Abkommen mit Moskau über Transparenz und Rüstungskontrolle.“

Tatsächlich sieht derzeit in Europa alles weniger nach Sicherheit und Zusammenarbeit aus als nach Unsicherheit und Konfrontation.

In Nato-Kreisen in Brüssel ist von einer „verdächtigen Doppelbödigkeit“ Russlands die Rede: Einerseits führe Moskau der gesamten Welt Tag für Tag den Truppenaufmarsch als solchen unübersehbar vor Augen. Das Moskauer Verteidigungsministerium selbst sorge für die auch internationale Verbreitung von Bildern. Zugleich aber wehre sich Moskau im Augenblick mit Händen und Füßen gegen internationale Inspektionen nach der Wiener Akte, die möglicherweise über Details Auskunft geben könnten, etwa die Art der Bewaffnung bestimmter Truppenteile, mögliche Strategien oder das Timing. Dieser Widerspruch steigere jetzt das Misstrauen im Westen.

2. Blutkonserven gehen an die mögliche Front

Schon zu Beginn des russischen Aufmarsches waren westlichen Beobachtern zahlreiche Sanitäts- und Versorgungseinheiten unter den in Richtung Ukraine verlegten russischen Truppen aufgefallen. Für eine nur vorübergehende „show of force“ brauche man dies alles nicht, hieß es, jedenfalls nicht in so großem Ausmaß.

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Am Wochenende gab es an dieser Stelle ein interessantes Update: Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete, die russische Armee habe für Soldaten an der Grenze zur Ukraine auch Vorräte an Blutkonserven angelegt. Später bestätigte der US-Sender CNN den Reuters-Bericht. Beide Medien berufen sich auf amerikanische Quellen, offenbar im Militär oder im Geheimdienst, die namentlich nicht genannt werden durften.

Westliche Fachleute sprechen mit Blick auf die Blutkonserven von einem weiteren „Schlüsselindikator“ für eine bis in alle Details hinein gesteigerte Gefechtsbereitschaft. Der Aufmarsch sei nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ anders als alles, was man bisher auf russischer Seite gesehen habe.

Die ukrainische Verteidigungsministerin Hanna Malyar dagegen nannte Nachrichten über Blutkonserven der russischen Truppen „Fake News“. Dies sei lediglich Teil einer psychologischen Kriegsführung mit dem Ziel, Panik in der Ukraine auszulösen.

„Nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ anders als alles, was man bisher auf russischer Seite gesehen hat“: Aufmarsch russischer Einheiten bei Woronesch am 26.1.2022. Die Satellitenaufnahme wurde von der kalifornischen Privatfirma Planet Labs PBC zur Verfügung gestellt.

„Nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ anders als alles, was man bisher auf russischer Seite gesehen hat“: Aufmarsch russischer Einheiten bei Woronesch am 26.1.2022. Die Satellitenaufnahme wurde von der kalifornischen Privatfirma Planet Labs PBC zur Verfügung gestellt.

Westliche Experten äußerten sich differenziert. Das bloße Vorhandensein von Blutkonserven sei noch kein Beweis für einen tatsächlichen Plan zum Angriff, hieß es. „Andererseits würde man einen Angriff nicht befehlen, wenn man sie nicht zur Hand hat“, fügte Ben Hodges hinzu, ein auf beiden Seiten des Atlantiks hoch angesehener pensionierter Generalleutnant, der bis Ende 2017 Oberkommandierender der US-Landstreitkräfte für ganz Europa war.

3. Eine leise Debatte über Fluchtrouten beginnt

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj betonte am Wochenende in mehreren Auftritten, die Lage sei „nicht angespannter als zuvor“. Panik sei das Letzte, was die Ukraine gebrauchen könne, sagte Selenskyi und verwies auf das Risiko einer Destabilisierung und einer Wirtschaftskrise.

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Dennoch hat in westlichen diplomatischen Kreisen bereits eine leise Debatte über das genaue Szenario einer Massenflucht begonnen – und auch über die damit verbundenen möglichen Probleme. Die westlichen Botschaften wissen, dass sie in dieser Frage eine Schlüsselrolle haben. In Kabul hatte die überstürzte Evakuierung der US-Botschaft bei den übrigen westlichen Staaten eine Kettenreaktion ausgelöst – und im Ergebnis den Umsturz und die Machtergreifung durch die Taliban beschleunigt.

Diese Erfahrung schwingt mit, wenn die EU-Außenminister derzeit betonen, an eine Evakuierung der Botschaften in Kiew sei nicht gedacht. Tatsächlich reduzieren bereits seit Anfang des Jahres alle westlichen Botschaften in Kiew diskret die Zahl ihrer physisch anwesenden Mitarbeiter. Zudem helfen sie Familienangehörigen von Botschaftsbediensteten beim Umzug in die Heimat. Die Botschaften sollen handlungsfähig („operational“) bleiben, so lautet die Sprachregelung.

Für die verbliebenen Botschaftsangehörigen hat ein politischer Drahtseilakt begonnen. Einerseits sollen sie keine Panik schüren. Andererseits bleiben sie verpflichtet, ihren Landsleuten im Kriegsfall mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

Die US-Botschaft in Kiew, Ukraine, wird derzeit gut bewacht.

Die US-Botschaft in Kiew, Ukraine, wird derzeit gut bewacht.

Auch an dieser Stelle häufen sich inzwischen Signale, die auf wachsenden Pessimismus hindeuten. So gab die US-Botschaft Kiew am Wochenende Ratschläge an Amerikaner zur Flucht über die Landwege heraus. Gleich zu Anfang heißt es da ganz unverblümt: „US-Bürger in der Ukraine sollten erwägen, jetzt mit kommerziellen oder anderen privat verfügbaren Transportmöglichkeiten abzureisen.“

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Da im Fall des Falles der Flugverkehr blockiert sein könnte, sind die Landwege – vor allem nach Westen – die naheliegenden Routen.

Detailreich geht das Infopapier der US-Botschaft auf die Covid-19-Bestimmungen in diversen Staaten ein. Ungarn etwa verlangt einen Impfnachweis, Rumänien nicht. Polen macht es offenbar auch für fliehende US-Bürger ein bisschen kompliziert und verlangt einen Antrag auf „Genehmigung der Einreise aus humanitären Gründen“. Es genügt aber ein vorheriger Anruf, drei Telefonnummern sind angegeben.

Unerwähnt bleibt, dass auf diesem Weg zeitgleich auch Hunderttausende ukrainische Zivilisten unterwegs sein könnten.

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