Dossier des Kremls aufgetaucht

Belarus als Vorspeise? Ein Geheimpapier und Putins Traum vom neuen Sowjetimperium

Alexander Lukaschenko (links), Präsident von Belarus, und Wladimir Putin, Präsident von Russland.

Alexander Lukaschenko (links), Präsident von Belarus, und Wladimir Putin, Präsident von Russland.

Was plant Wladimir Putin? Eine Frage, die ganze Hundertschaften von Kremlforschern und ‑deutern umtreibt. Ein jetzt aufgetauchtes 17‑seitiges Papier, eingestuft als vertraulich, gewährt einen tiefen Einblick in die strategischen Planungen des Kremls – und bestätigt viele Befürchtungen im Westen.

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Das Dokument mit der Überschrift „Strategische Ziele der Russischen Föderation in Belarus“ stammt angeblich aus dem Jahr 2021 und wurde jetzt von einem Dutzend europäischer Medien ausgewertet, darunter die „Süddeutsche Zeitung“, WDR und NDR, die schwedische Zeitung „Expressen“, „Kyiv Independent“, „Delfi Estonia“, die polnische Frontstory, das Belarussische Investigativ­center, die polnische Investigativ­plattform Vsquare, Yahoo News und das Londoner Dossier Center.

Inhalt des Papiers: die mittel- bis langfristige Einverleibung der souveränen und unabhängigen Nation Belarus bis zum Jahr 2030 durch Russland. „In seiner äußeren Form ähnelt das Dokument einem Standard­dokument der russischen Bürokratie oder politischen Verwaltung“, zitiert die „Süddeutsche Zeitung“ Martin Kragh, stellvertretender Direktor des Stockholm Centre for Eastern European Studies (SCEEUS). Der Inhalt stimme „weitgehend mit den politischen Zielen Russlands gegenüber Belarus seit den 1990er-Jahren überein“.

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Auch zwei westliche Geheimdienste, denen das Papier gezeigt wurde, halten es für glaubwürdig. „Der Inhalt des Dokuments ist absolut plausibel und entspricht dem, was wir auch wahrnehmen“, so ein hochrangiger Nachrichten­­dienstler laut „Süddeutscher Zeitung“.

Man müsse das Strategie­papier als Teil eines größeren Plans von Putin sehen: der Schaffung eines neuen großrussischen Reichs, einer Sowjetunion des 21. Jahrhunderts. Mehrfach hatte der russische Präsident den 1991 erfolgten Untergang der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet, so bei einer Rede im April 2005.

Moskaus Ziel: das Leben in Belarus diktieren

Ziel der russischen Politik sei es, das politisch-wirtschaftliche und militärische Leben in Belarus zu diktieren. Mit dem Ziel einer „Sicherstellung des vorherrschenden Einflusses der Russischen Föderation in den Bereichen Gesellschafts­politik, Handel, Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung und Kultur“.

Eine in Belarus nach dem umstrittenen Referendum vom 27. Februar 2022 veränderte Verfassung soll nach russischen Vorstellungen vollendet werden. Gesetze in Belarus sollen denen Russlands angepasst werden, „harmonisiert“ heißt es in dem Papier.

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Lukaschenko besucht russische Truppen in Belarus

Die Entwicklung schürt Sorgen, dass von Belarus aus ein Angriff auf die angrenzende Ukraine von Norden her erfolgen könnte.

Schon jetzt erlaubt die neue Verfassung die Stationierung von russischen Atomwaffen auf belarussischem Territorium. „Prorussische Gruppen in der belarussischen Politik, im Militär und in der Wirtschafts­elite“ sollen unterstützt werden. Geplant ist zudem eine „Ausweitung der Militär­präsenz der Russischen Föderation auf dem Territorium der Republik Belarus“, was auch ein gemeinsames Kommando­system einschließt.

Das alles deckt sich mit der Realität: Immer mehr russische Soldaten werden in Belarus stationiert, bis zum Frühjahr soll die Zahl auf 120.000 ansteigen. Im Herbst gab Diktator Alexander Lukaschenko die Aufstellung einer gemeinsamen Truppe mit Russland bekannt.

Es scheint zu belegen, dass Belarus kein selbstständiges Land mehr ist.

Jan C. Behrends,

Historiker

„Natürlich muss man die Authentifizierung dieser Dokumente Spezialisten überlassen, aber alles, was bisher bekannt ist, bestätigt die imperiale Politik des Kremls der vergangenen Jahre. Es zeigt sich, dass Belarus, seit Putin vor fast zwei Jahren Lukaschenko die Macht gerettet hat, ein scheinsouveräner Satellitenstaat Russlands ist“, sagt Prof. Jan C. Behrends vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, zum Redaktions­Netzwerk Deutschland (RND). „Lukaschenko hat einen faustischen Pakt mit Putin geschlossen, er ist jetzt als Vasall ein Teil des russischen Macht­universums.“

Kontrolle bis 2030

Bis 2030, so das Papier, müsse Russland „die Kontrolle über den Informationsraum der Republik Belarus“ sichergestellt haben. Es müsse außerdem versucht werden, eine „dominierende Stellung der russischen Sprache“ gegenüber der belarussischen zu erreichen. Die angestrebte Einflussnahme betreffe Politik, Militär und Verteidigung, Handel und Wirtschaft sowie den gesellschaftlichen Sektor.

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In der Wirtschaft sollen sämtliche Handels­hemmnisse zwischen den Ländern beseitigt, das belarussische Kernkraftwerk in das Stromnetz des neuen Unionsstaates integriert und alle belarussischen Fracht­transporte, die bislang über das Baltikum laufen, zu russischen Häfen umgelenkt werden.

Als Motivation scheint es dem Kreml um das Ziel zu gehen, den westlichen Einfluss zurückdrängen und ein Bollwerk gegen die Nato zu schaffen. Das Papier wurde offenbar im Sommer 2021 verfasst – und damit gut ein halbes Jahr vor dem Überfall auf die Ukraine. Im Jahr zuvor war es in Belarus nach offensichtlich gefälschten Wahlen zu monatelangen Massenprotesten mit oft über 100.000 Teilnehmern und Teilnehmerinnen gekommen, über 33.000 Menschen wurden inhaftiert. Die Impulse für ein extrem hartes Durchgreifen, das am Ende auch dazu führte, dass sich der zwischenzeitlich akut gefährdete Diktatur Lukaschenko am Ende doch halten konnte, gingen deutlich von Russlands Präsident Wladimir Putin aus.

Ich glaube, dieses Papier passt sehr gut in das putinsche Konzept, das uns bislang bekannt ist.

Wolfgang Eichwede,

Historiker

„Ich glaube, dieses Papier passt sehr gut in das putinsche Konzept, das uns bislang bekannt ist“, sagt auch der Russland-Kenner Wolfgang Eichwede zum RND. „Seit mehreren Jahren hat Putin wiederholt Versuche unternommen, Belarus stärker an Russland zu binden. Im Krieg gegen die Ukraine stellte er sein Land als Aufmarsch­gebiet zur Verfügung, was bislang von Russland nicht voll genutzt wurde. Daher ergibt eine engere militärische Zusammenarbeit aus strategischen Erwägungen des Kremls einen Sinn“, so der Historiker.

Menschen spielen keine Rolle

Was in dem in de Strategie­papier keine Rolle spielt, sind die Interessen der Menschen in Belarus – und das ist typisch für die Planungen des Kremls. Ob die knapp zehn Millionen Männer und Frauen in Belarus der Auflösung ihres Heimatlandes und der Integration in die Russische Föderation zustimmen oder sie ablehnen, ob sie in Putins Reich leben möchten, ihre Sprache und Kultur aufgeben möchten – es spielt in den Überlegungen des Kremls keine Rolle.

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Für Wolfgang Eichwede liegt hier ein Grundirrtum putinscher Überlegungen: „Putin versteht in seinem Machtwillen eine Grundtatsache nicht: Je weiter er versucht, seinen Machtbereich auszudehnen, je mehr Völker er damit konfrontiert, desto größer wird der Widerstands­wille, der ihm entgegen­schlägt. Er denkt in imperialen Kategorien – der Faktor Menschen spielt da einfach keine Rolle.“

Russlands Strategen erliegen hier ähnlichen Illusionen wie im Krieg gegen die Ukraine, glaubt der Historiker Behrends: „Sie dachten, ihre Soldaten würden in der Ukraine mit Brot und Salz empfangen, das ist dann aber nicht geschehen. In Putins Politik geht es nicht um Machbares, sondern um das Wunschdenken eines Diktators. Russland hat schon viele Entscheidungen getroffen, über die wir uns gewundert haben, weil sie offensichtlich auf Uninformiertheit beruhten. Der versuchte Anschluss von Belarus wäre eine weitere“, so Behrends.

Tief verwurzelte Westausrichtung

Im Fall Belarus verweist Wolfgang Eichwede auf die in der Bevölkerung tief verwurzelte Westausrichtung, die ihn bei zahllosen Besuchen im Land immer wieder beeindruckt hat. „Putin würde sich hier, wie auch im Fall der Ukraine, auf Jahrzehnte hin Unruhe und Widerstands­willen aufhalsen, der sein Land eher schwächen denn stärken würde. Im Fall Belarus sehe ich vor allem einen Widerstand, der feminin ist, und einen Gegenentwurf zu Putins antiquiertem Weltbild bildet.“

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Laut dem Papier hofft Moskau auf eine reibungslosere Assimilierung der belarussischen Zivil­gesellschaft einerseits durch eine Stärkung russischer Medien im Nachbarland, andererseits, indem mehr belarussische Studenten und Studentinnen an russischen Universitäten studieren, sowie durch die „Eröffnung neuer Wissenschafts- und Kulturzentren“.

Veröffentlichung kommt zur Unzeit

Die Veröffentlichung des Papiers kommt für Putin und den belarussischen Diktator Lukaschenko zur Unzeit. Einerseits, weil hier offensichtlich wird, dass Lukaschenko kaum noch eigenen Gestaltungs­spielraum hat. Seine Nicht­teilnahme an Putins Angriffskrieg ist damit die letzte Eigenmächtigkeit, mit der er international Unabhängigkeit vom Kreml demonstriert.

„Russlands Ziele im Hinblick auf Belarus sind dieselben wie in der Ukraine“, zitierte die ukrainische Zeitung „Kyiv Independent“ den US-Botschafter bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Michael Carpenter. „Nur verlassen sie sich in Belarus eher auf Nötigung als auf Krieg. Das Endziel ist aber dennoch die umfassende Eingliederung.“

Derartige Papiere wirken da wie Beschleuniger.

Jan C. Behrends,

Historiker

Zudem wirkt der Belarus-Plan für Russlands Nachbarn wie eine Blaupause dohender Szenarien, warnt in „Kyiv Independent“ Franak Viačorka, Chefberater der im Exil lebenden belarussischen Oppositions­politikerin Swetlana Tichanowskaja: Das wirke wie eine Drohung – und zwar „für Kasachstan, Armenien, Moldau“. Auch Historiker Behrends glaubt, dass solche Dokumente, falls sie denn authentisch sind, Wirkung im postsowjetischen Raum entfalten können: „Ich bin überzeugt, dass es solche Papiere auch über Georgien oder Moldau gibt. Im Fall Kasachstan sind Absatz­bewegungen gegenüber Russland doch längst zu beobachten. Derartige Papiere wirken wie ein Beschleuniger für den Zerfall russischen Einflusses.“

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