Bahn soll Holocaust-Opfer entschädigen: Linke, Grüne und FDP unterstützen Vorstoß
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Das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau (Auschwitz 2) in Polen.
© Quelle: imago images/epd
Berlin. Der niederländische Holocaust-Überlebende Salo Müller (84) erhält für seine Forderung, die Deutsche Bahn AG solle Holocaust-Opfer für die Deportation auf dem Schienenwege in die Vernichtungslager entschädigen, Unterstützung der Opposition im Bundestag.
„Es ist beschämend, dass die Bundesregierung und die Deutsche Bahn sich mit gegenseitigen Zuweisungen von Verantwortung aus der Pflicht zur Entschädigung von Opfern des Holocausts zu stehlen versuchen“, sagte Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Bartsch verweist darauf, dass die französische Staatsbahn und die niederländische Bahn diejenigen entschädigen, die auf ihren Schienen in Vernichtungslager deportiert worden sind. „Dass Bundesregierung und Bahn dies bislang nicht tun, lässt einem als Deutschen die Schamesröte ins Gesicht steigen“, so der Linkenpolitiker.
„In allen Fragen der Entschädigung – dieser minimalsten Form des Versuchs der Entschuldigung – müssen wir Vorreiter sein“, sagte Bartsch. „Ich unterstütze deshalb die Forderungen von Salo Muller und fordere die Bundesregierung auf, sehr zügig einen entsprechenden Entschädigungsfonds für die Betroffenen aufzulegen, wie es in anderen Fällen der Fall war.“
Niederländische Bahn zahlt an Holocaust-Opfer
Muller hatte 2019 erreicht, dass die Nederlandse Spoorwegen rund 50 Millionen Euro an die etwa 7000 Opfer, die konkret ermittelt werden konnten, und ihre Nachkommen zahlt. Diese Regelung gilt jedoch nur für holländisches Staatsgebiet.
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Salo Muller ist der einzige Holocaust-Überlebende seiner Familie. Er wurde als Kind versteckt.
© Quelle: picture alliance / PRO SHOTS
Den Weitertransport von der deutschen Grenze in die Vernichtungslager wie Auschwitz, Treblinka oder Sobibor übernahm die Deutsche Reichsbahn. Die Opfer mussten für ihre Fahrt in die Gaskammern selbst zahlen. Erwachsene zahlten vier Reichspfennige pro Kilometer und Kopf, Kinder zwischen vier und zehn Jahren die Hälfte, Kleinkinder wurden kostenlos transportiert. Bei Transporten von mehr als 400 Personen gab es einen Mengenrabatt von 50 Prozent.
Muller findet, die Deutsche Bahn sollte sich dafür entschuldigen und auch Entschädigungen leisten wie das holländische Bahnunternehmen.
Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz meint, Bundesregierung und Bahn sollten sich ernsthaft mit der Forderung auseinandersetzen. „Dass die Opfer für ihre Deportation zahlen mussten, war eine besondere Perfidie des NS-Staates. Es muss ein Weg gefunden werden, den Überlebenden konkret für dieses Unrecht eine würdige Anerkennung und Entschädigung zukommen zu lassen“, so von Notz. „Wenn es über bestehende Regelungen nicht gehen sollte, dann über einen zu schaffenden neuen Fonds.“
Bahn und Bund lehnen Entschädigung ab
Unterstützung erhält der Holocaust-Überlebende auch von den Liberalen. „Jenseits der Frage, welche juristischen Ansprüche über die bereits erfolgten gesetzlichen und außergesetzlichen Versuche einer Wiedergutmachung bestehen, sehen wir eine moralische wie historische Verpflichtung, die nicht vergessen werden darf“, sagte Thomas Hacker, in der FDP-Fraktion verantwortlich für Erinnerungspolitik. „Vor diesem Hintergrund unterstützen wir das Ansinnen von Herrn Muller um Anerkennung des Schmerzes und des Leidens der verschleppten und deportierten Menschen.“
Die Bundesregierung lehnt dies ab.
Im Antwortschreiben auf einen Brief von Mullers Anwalt Axel Hagedorn an die Bundeskanzlerin und Minister schreibt die im Bundesfinanzministerium zuständige Unterabteilungsleiterin Eva-Maria Meyer: „Die schrecklichen Umstände von Deportationen im Zuge der Verfolgung, die vielfach durch Züge, vielfach aber auch auf anderen Wegen erfolgten, sind in den verschiedenen gesetzlichen und außergesetzlichen Regelungen mitbedacht. Die Deportation als solche kann als Teil des gesamten Verfolgungsprozesses deshalb nicht gesondert (teil-)entschädigt werden.“
Auch die Bahn AG antwortet abschlägig und verweist darauf, dass sie nicht Rechtsnachfolgerin der Deutschen Reichsbahn sei: „Wir möchten Herrn Muller um Verständnis dafür bitten, dass die Deutsche Bahn AG keine individuellen Entschädigungszahlungen übernehmen kann. Es ist die Bundesrepublik Deutschland, die Fragen der materiellen Entschädigungen mithilfe zwischenstaatlicher ‚Wiedergutmachungsabkommen‘ sowie verschiedener Gesetze und Regelungen für die von nationalsozialistischen Verbrechen betroffenen Menschengruppen klären könnte.“
Entschädigung durchzusetzen ist juristisch schwierig
Juristisch, räumt auch Muller-Rechtsbeistand Hagedorn ein, wird die Erfüllung der Forderung schwierig. Der Stiefsohn eines Waffen-SS-Offiziers verweist jedoch auf moralische Verantwortung und Beispiele aus Holland und Frankreich. „In der Einigung mit der niederländischen Bahn sind die Ermordeten, die Überlebenden und die Nachkommen klar identifiziert. Das erleichtert die Aufgabe in Deutschland.“
Es ginge also um konkrete, nachweisbare Opfer und nicht um eine anonyme Gruppe, so Hagedorn. „Es sind genau die Opfer, die aus sämtlichen Entschädigungsfonds in Deutschland herausfallen.“
Professor Axel Hagedorn ist als Anwalt in Deutschland und in den Niederlanden zugelassen. Er fordert im Namen des holländischen Holocaust-Überlebenden Salo Muller (84) von der Deutschen Bahn AG Entschädigungen für die Deportationen niederländischer Juden in die Vernichtungslager.
© Quelle: Frank Ruiter
Juristisch mag es durch verschiedene rechtliche Konstruktionen vielleicht keinen Rechtsnachfolger geben, meint der Anwalt. „Unbestreitbar ist doch aber, dass die Bahn nach dem Krieg die Monopolposition, die Schienen und das Vermögen der Reichsbahn übernahm, um damit zu wirtschaften. Und die hatte sich an den Deportierten bereichert.“
Außerdem hätte die Deutsche Reichsbahn eine entscheidende Rolle im Vernichtungsmechanismus des NS-Regimes gespielt. „Ohne sie“, so Hagedorn, „wäre der Holocaust in diesem Umfang nicht möglich gewesen.“ Eine Entschuldigung für das unsägliche Leid sei wichtig, doch sie allein löse keine Schuld ein. „Wer es ernst meint, sagt Salo immer, der zahlt dafür etwas“, zitiert der Anwalt seinen Klienten.
SPD antwortet, Union und AfD schweigen
Aus der Koalition mag sich in der Angelegenheit nur SPD-Fraktionsvize Sören Bartol mit diesem Satz zitieren lassen: „Die Bundesregierung hat sich angesichts des schändlichen Zivilisationsbruches, bei dem das Reichsverkehrsministerium und die Deutsche Reichsbahn mit der Deportation der jüdischen Bevölkerung eine maßgebliche Rolle gespielt haben, für eine einmalige und umfassende Entschädigungsregelung entschieden.“
Die Unionsfraktion wollte sich nicht zu der Anfrage äußern. Die AfD verzichtete ebenfalls auf eine Antwort.
RND