E-Paper

Attacke auf New York – mitten ins Herz

Die von ABC herausgegebene Luftaufnahme des New York City Police Department zeigt Rauch und Staub in Manhattan nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center in New York.

Die von ABC herausgegebene Luftaufnahme des New York City Police Department zeigt Rauch und Staub in Manhattan nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center in New York.

Es bleibt unvergesslich. Jeder, der am 11. September 2001 in New York war, kann sich genau daran erinnern, was er an diesem Tag um 8.46 Uhr am Morgen gerade getan hat. Es war der Augenblick, an dem sich mit einem Donnerschlag alles veränderte: die Stadt, das Land, die Welt.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Helaina Hovitz saß an diesem Tag zu dieser Uhrzeit im Klassenzimmer der Intermediate School Nummer 89 an der Chambers Street im unteren Manhattan, keine 100 Meter vom World Trade Center entfernt. Es war die erste Stunde des Schultags, und Helaina hatte schlechte Laune. Sie hatte sich mit ihrer Mutter gestritten an jenem Morgen, dem zweiten Tag der siebten Klasse, weil diese sie am Vorabend ohne Schirm in einen Sturzregen geraten ließ. Seitdem waren die Haare der Zwölfjährigen nicht mehr zu bändigen.

So hörte sie ihrem Biologielehrer grimmig und gelangweilt zu, als dieser den Schülerinnen den Unterschied zwischen einem Ökosystem und einem Biom erklärte. Dann ließ plötzlich ein gigantischer Knall das Klassenzimmer erbeben.

„Ich war in der Toilette und muss genau in diesem Moment gespült haben“

Abe Frajndlich war zu diesem Zeitpunkt rund drei Kilometer weiter nördlich in seinem Fotostudio. Etwa eine Stunde zuvor hatte er seine Wohnung an der Brooklyn Bridge, rund 300 Meter von Helainas Schule entfernt, verlassen, um seinen Sohn in den Kindergarten zu bringen.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Als das erste Flugzeug in das World Trade Center rauschte, war Frajndlich gerade mit seinem Assistenten damit fertig geworden, das Studio für einen Shoot herzurichten. Der Fox-News-Moderator Bill O‘Reilly sollte an diesem Morgen für das Wochenendmagazin „Parade“ abgelichtet werden.

Den Knall selbst hörte Frajndlich indes gar nicht, „ich war in der Toilette und muss genau in diesem Moment gespült haben.“ Als er wieder ins Studio trat, hatte sein Assistent einen verstörten Gesichtsausdruck. „Es ist etwas ganz Eigenartiges passiert.“

Dichte schwarze Wolken über New York City

Die beiden drehten das kleine Radio an, das in ihrem Studio hing, aus dem wirre, verstörte Meldungen in den Raum drangen. „Es scheint, als ob ein Hubschrauber oder ein Flugzeug das World Trade Center getroffen hat.“

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Frajndlich lebte seit Jahrzehnten als Nachrichtenfotograf und Dokumentar in New York, und sein Instinkt drängte ihn nach draußen. O‘Reilly konnte warten, jetzt musste er erst einmal sehen, was da los ist. So packte er eine Tasche mit einer kleinen Fotoausrüstung, stürmte auf die Straße und schnappte sich das nächste Taxi an den Hudson. Dort, von einem Pier aus, der weit in den Fluss hinausragt, hatte er freien Blick auf das untere Manhattan.

Es war nun beinahe 9 Uhr, dichte schwarze Wolken quollen aus den oberen Stockwerken des Turms. Auf dem Pier hatte sich eine Menschenmenge versammelt, man starrte still und fassungslos in die strahlende Morgensonne blinzelnd in Richtung Süden. Dann, plötzlich, dröhnte das Geräusch eines Triebwerks über Manhattan, so laut, so nahe, dass es durch Mark und Bein fuhr. Und dann passierte das Unglaubliche – die zweite Maschine, eine Boeing 767-200 – rauschte auf zwei Drittel der Höhe in den zweiten Glasturm. An das Bild des Aufpralls erinnert Fraijndlich sich kaum, obwohl er auf den Auslöser drückte. Woran er sich jedoch genau erinnert, ist das Gesicht des Mannes, der vor ihm stand. „Ich habe noch nie Entsetzen in solcher Reinform gesehen. Es war wie aus dem Picasso-Gemälde ‚Guernica‘.“

Helaina Hovitz saß in der Zwischenzeit mit ihren 500 Mitschülerinnen und Mitschülern in der Cafeteria der IS 89. Keines der Kinder wusste genau, warum sie dort waren oder was draußen, auf der anderen Seite des Westside Highway, vor sich ging. Gerüchte von einer Bombe gingen um. Und dann kamen auf einmal Männer mit großen Helmen und grünen Uniformen in die Schule.

Es waren die schlimmsten Stunden ihres Lebens

Es war zehn nach neun, der zweite Turm war bereits getroffen. Und nun brach Chaos aus. Die Schule sollte sofort evakuiert werden, doch kein Kind durfte allein nach Hause. Helainas Mutter arbeitete aber im Rockefeller Center, in Midtown, ihr Vater auf der anderen Seite der New Yorker Bucht auf Staten Island. Zum Glück war da Ann, die Mutter eines Mitschülers, der wie Helaina in einem Apartmenthaus auf der anderen Seite von Manhattan auf der Fulton Street lebte.

Gewöhnlich dauerte der Fußweg nach Hause für Helaina keine 15 Minuten. Doch an diesem Tag sollte sie Stunden brauchen, um zur Wohnung ihrer Eltern zu kommen. Es waren die schlimmsten Stunden ihres Lebens.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Beinahe unmittelbar nachdem Helaina mit Ann und ihrem Klassenkameraden Christopher auf die Straße getreten war, fingen sie an, diese unheimlichen Geräusche zu hören. Geräusche, die, wie Helaina sich erinnert, so klangen, als ob dicker Hagel gegen eine Scheibe hämmert oder ein Sack voller Nägel auf den Boden fällt. Ann nahm Helainas Kopf unter den Mantel und sagte nur immer wieder: „Schau nicht hin. Schau nicht hin.“ Noch stand das World Trade Center, doch die Flammen schlugen aus den oberen Stockwerken und die drei standen direkt unter den Türmen. Vielleicht, dachte Helaina, sind das Bomben, die da herunterfallen, vielleicht bombardieren sie uns. Dann fiel der erste Turm. Helaina erinnert sich an ein Geräusch wie das Kratzen von 1000 gigantischen Kreidestücken auf eine Tafel am Himmel. Dann rannten alle. Ein paar Arbeiter zogen die drei in die Eingangshalle eines Gebäudes, während Helaina nur daran denken konnte, dass sie sich zuletzt mit ihrer Mutter gestritten hatte. Als Ann und die beiden Kinder wieder auf die Straße traten, war nichts zu erkennen, was sie auch nur im Entferntesten an die Stadt erinnerte, die sie kannten.

Unklarheit: Waren das Bomben?

Der Himmel war schwarz, alles war mit einer dicken Schicht grauen Staubs überzogen. Verwirrte, verstörte Menschen irrten hilflos umher. Menschen wie Marcy Borders. Das Bild von der damals 28-Jährigen, die mit Staub bedeckt voller Angst und Verwirrung in New Yorks Straßen steht, ist zu einem ikonischen Foto dieses Tages geworden.

Was genau vorgefallen war, blieb aber weiterhin unklar. Waren das Bomben? Passierte das überall? Würde es weitere geben?

Abe Frajndlich hatte inzwischen Kontakt zu seiner Frau Cynthia aufgenommen, die in einem Büro in Midtown arbeitete. Der Sohn war sicher bei einem Schulkameraden zu Hause und die drei würden sich bei einem befreundeten Paar an der Houston Street treffen, gerade nördlich der Zone, die schnell zum Sperrgebiet erklärt worden war. Die einzige Sorge, welche die Familie nun noch hatte, war, ob ihre Wohnung noch steht.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit schafften es Abe und Cynthia zu ihrem Apartmentgebäude, das noch stand. Doch der Anblick, der sich bot, als sie ihre Wohnungstür öffneten, ließ sie erschaudern. Alles war unter zentimeterdicker Asche begraben. „Es sah aus wie eines jener Häuser in einem Horrorfilm, das 50 Jahre lang niemand mehr betreten hatte.“

Feuer und Rauchschwaden sind am Nordturm des World Trade Centers zu sehen, nachdem Terroristen zwei entführte Flugzeuge in das World Trade Center geflogen und die Zwillingstürme zum Einsturz gebracht hatten.

Feuer und Rauchschwaden sind am Nordturm des World Trade Centers zu sehen, nachdem Terroristen zwei entführte Flugzeuge in das World Trade Center geflogen und die Zwillingstürme zum Einsturz gebracht hatten.

In Helainas Wohnung, die sie nach zwei Stunden endlich erreichte, sah es ähnlich aus. „Als ich mein Bett gesehen habe, konnte ich nur denken, wessen Asche denn wohl darauf liegt? Wer hat in meinem Bett wohl seine letzte Ruhe gefunden?“ Ihre Familie jedenfalls hatte überlebt. Ihre Großmutter war wohlauf. Und ihre Eltern hatten auch schon angerufen.

Bereits am nächsten Tag begann Abe Frajndlichs Frau, die Wohnung zu putzen, sie wollte Normalität wiederherstellen. Abe begleitete sie bei den Expeditionen in die Todeszone, über der noch wochenlang eine graue Wolke hing. Er begann zu fotografieren, was sich nach der Katastrophe in der Gegend, die bald Ground Zero genannt wurde, tat. Er nahm die qualmenden Trümmer auf, die verlassenen Geschäfte und Restaurants, die Vermisstenanzeigen, die überall angeschlagen wurden, die Arbeiter, die nach Überlebenden suchten.

Ein New Yorker Feuerwehrmann fordert weitere Rettungskräfte auf, sich einen Weg in die Trümmer des World Trade Center in New York City zu bahnen.

Ein New Yorker Feuerwehrmann fordert weitere Rettungskräfte auf, sich einen Weg in die Trümmer des World Trade Center in New York City zu bahnen.

Auf einem seiner Streifzüge traf er zwei Männer mit Schutzanzügen und Gasmasken, Wissenschaftler, die die Luftqualität überprüften. Als er ihnen erzählte, dass seine Frau gerade ihre Wohnung vom Staub befreit, befahlen sie ihm, sie unverzüglich dort rauszuholen. Abe rannte zu ihrer Wohnung und klopfte im Haus noch an so vielen Türen, wie er konnte, um seine Nachbarn zu warnen.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Helaina und ihre Familie richteten sich unterdessen in der Todeszone ein. Die Gegend unmittelbar um Ground Zero war zwar evakuiert worden, doch aus irgendeinem Grund hatte man das Apartmenthaus, in dem die Hovitz wohnten, vergessen. So begannen für sie Wochen, die sich so ähnlich angefühlt haben müssen wie das Leben in den Trümmern einer deutschen Stadt im Jahr 1945.

Ein Tagebucheintrag von Helaina aus diesen Tagen las sich so: „Der Supermarkt an der Smith Street ist offen, aber es gibt nichts mehr. Also mussten wir zur John Street laufen. Als wir unterwegs waren, brach auf einmal eine Panik aus, und alle begannen zu rennen. Jemand hatte gesagt, dass die Nummer 1 Liberty Street einstürzt sei. Ich kriege noch einen Herzinfarkt, wenn das so weitergeht.“

Helaina fand Zuflucht im Alkohol

In den kommenden Monaten sollte jedoch im unteren Manhattan langsam wieder so etwas wie Normalität einkehren. Die Geschäfte, Büros und die Restaurants öffneten wieder, die Kinder mussten wieder in die Schule. Ground Zero wurde aufgeräumt und mit einem Bauzaun umstellt, der rund zehn Jahre dort stehen sollte. New York ließ den 11. September hinter sich, schneller als die meisten Menschen im Land. Viele sahen es so, wie Abe Frajndlich: „Es bringt nichts, lange darüber nachzugrübeln. Man muss nach vorne schauen.“

Doch weder im Leben von Abe noch in dem von Helaina waren die Dinge wieder normal. Und sie würden es auch lange Zeit nicht werden.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Helaina merkte bald, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Die U-Bahn-Fahrten, die sie jetzt unternehmen musste, weil ihre Schule geschlossen blieb, waren für sie unerträglich. Sie erlitt jedes Mal Panikattacken. Jede Durchsage konnte für sie bedeuten, dass es wieder los geht. In jeder Tasche vermutete sie eine Bombe. „Für mich war es nie die Frage, ob das noch einmal passiert. Nur wann.“ Unter anderen Jugendlichen, die 9/11 nicht so hautnah erlebt hatten, fühlte Helaina sich stets isoliert. Und schon sehr früh fand sie Zuflucht im Alkohol.

Helainas Alkohol- und Drogenkonsum war außer Kontrolle geraten

Als Helaina mit 18 aufs College kam, war sie vollkommen haltlos. Ihr Alkohol- und Drogenkonsum war außer Kontrolle geraten. Sie betäubte sich mit wahllosem Sex mit Unbekannten. Oft erschien ihr alles sinnlos, sie stand mehrmals kurz davor, Selbstmord zu begehen.

Abe Fraijndlich schaffte es hingegen ganz gut, den 11. September hinter sich zu lassen. Er reiste um die Welt, er fotografierte. Doch seiner Frau Cynthia gelang das nicht. Sie wurde zunehmend besessen von jenem Tag. Sie schaute jeden Film über 9/11, las jedes Buch. „Sie konnte nicht loslassen, das Ereignis hat sie zutiefst verändert.“

Gut fünf Jahre später wird bei Cynthia Krebs diagnostiziert. Die Ärzte wollten sich nicht auf einen Zusammenhang mit dem Staub aus den Türmen festlegen. Aber sie wollen ihn auch nicht ausschließen. Bevor sie im Jahr 2007 dem Krebs erliegt, ist sie fest davon überzeugt, dass es der 11. September war, der sie zerstört hat. Körperlich und psychisch.

Abe Frajndlich hat New York verlassen

Helaina Hovitz hingegen findet rund zehn Jahre nach dem 11. September endlich einen Therapeuten, der bei ihr eine richtige Diagnose stellt. Als sie hört, dass sie unter dem posttraumatischen Stresssyndrom leidet, werden ihr endlich ihre Symptome verständlich. Und sie beginnt nach und nach, mithilfe der richtigen Therapie ihr Leben in den Griff zu bekommen. Sie hört auf zu trinken, baut sich eine Karriere als Journalistin auf und heiratet im Jahr 2018.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Gleichzeitig hat sie ein Netzwerk für die Kinder des 11. September aufgebaut. „Es gibt noch immer, 20 Jahre später, so viele von uns, denen es schlecht geht und die nicht wissen, was mit ihnen los ist.“

Abe Frajndlich hingegen hat New York verlassen. Er ist nach Cleveland zurückgekehrt, wo er aufgewachsen ist, dort möchte der heute 75-Jährige seinen Lebensabend verbringen. Das untere Manhattan, das er vor dem 11. September 2001 geliebt hat, hat sich dramatisch verändert: „Ich erkenne es nicht wieder.“

Mehr aus Politik

 
 
 
 
 
Anzeige
Anzeige

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken